Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
mit den Kataklysmen, die die Strecke für ein ganzes Jahrhundert zerstört, ja lahmgelegt haben: Erst war es der Erste Weltkrieg, der aus einem Mittel der Mobilität von Zivilisten ein Mittel der Generalmobilmachung für Soldaten gemacht hat. In Revolution und Bürgerkrieg entschied die Herrschaft über diese Verkehrsader über Sieg und Niederlage im Kampf zwischen Weiß und Rot. Die Bahn, einmal konzipiert als eurasische Trasse, wurde nach der Revolution zu einem innersowjetischen Medium für den sozialistischen Aufbau, aber auch für Massendeportationen. Im Zweiten Weltkrieg wurden über die Strecke die Reservetruppen herangeschafft, die Hitlers Armeen schlugen. In der geteilten Nachkriegswelt war an eine Verbindung von Wladiwostok nach Hamburg, von Shanghai nach Rotterdam nicht mehr zu denken.
All das hat mit Geographie nichts zu tun, wohl aber mit weltpolitischen Konflikten, Grenzziehungen, Geschichte eben. Der Fall des Eisernen Vorhangs, der Aufstieg des Fernen Ostens hat die ganze Szenerie verändert. Sibirien ist noch immer ein Raum, in dem – wie im Fall Chodorkowski – unliebsame Personen verschwinden sollen. Aber es ist heute auch der Raum, in dem unentwegt die Handys klingeln – Sibirien hat aufgehört, außerhalb der Welt zu sein. Das große, weite Land, das im Abseits lag, ist mit der Globalisierung auf die Weltkarte des Verkehrs, der Kommunikation, des Handels zurückgekehrt. In den Stäben der Logistikunternehmen denkt man darüber nach, dass es durchaus sinnvoll ist, den steigenden Austausch nicht über Suez, sondern auf direktem Weg abzuwickeln, in zehn Tagen statt in bisher 30 Tagen. Das heißt, dass am Beginn des 21. Jahrhunderts ein Gedanke gedacht und ein Vorhaben projektiert wird, das schon einmal, vor mehr als 100 Jahren, gedacht und projektiert worden ist. Das bedeutet nichts anderes, als dass endlich getan wird, was das 20. Jahrhundert unterlassen oder verhindert hat zu tun. So werden endlich und mit großer Verspätung zwar nicht die Rätsel des russischen Raumes oder gar der russischen Seele gelöst, vielleicht aber doch der Raum bewältigt, der uns in der Vergangenheit immer wieder fasziniert und zu Spekulationen verleitet hat.
(2009)
Russlands zweite Modernisierung
Heute, 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion, haben sich zum Glück jene Katastrophenszenarien nicht bewahrheitet, die nicht ohne Grund Anfang der 1990er Jahre en vogue waren: Russland ist nicht in eine Weimarer Situation hineingeschlittert, die manche klugen Beobachter schon hatten kommen sehen, Russland ist vielmehr dank der steigenden Weltmarktpreise für Energie ein reiches, ja ein superreiches Land geworden, das neben China die größten Währungsreserven hat anhäufen können.
Dieser Reichtum, der sich fast automatisch aus der Naturalrente ergab und der nur zum Teil durch Modernisierung selbst erarbeitet war, hat jedoch – je länger, desto mehr – seine modernisierungsfeindliche Seite zu erkennen gegeben. Ein Land, das über solche Einkommen verfügt, muss sich keine Gedanken machen über andere Formen der Leistungssteigerung, der Erhöhung der Produktivität und der Effizienz.
Dieses Problem ist, wie man aus einem Erlass Peters des Großen herauslesen kann, nicht ganz neu: »Unser russisches Land ist vor vielen andern Ländern durch den Reichtum und die Mannigfaltigkeit von Metallen und Mineralien ausgezeichnet. Man hat bisher dergleichen Stoffen nicht eifrig genug nachgeforscht, insbesondere hat man das Gefundene nicht genug zu verwerten verstanden, und so ist der Vorteil, welchen wir und unsere Untertanen davon hätten haben können, nicht genugsam ins Auge gefasst worden.«
Obwohl die politische Führung des Landes schon lange die negativen Folgen dieser Naturalrente in Gestalt der Petrodollars kennt, obwohl sie schon lange darauf hingewiesen hat, dass sie sich aus der einseitigen Abhängigkeit von Rohstoff- und Energieexport lösen und die Wirtschaft diversifizieren möchte, obwohl vor allem Präsident Dmitrij Medwedjew immer wieder auf die Notwendigkeit der »Nano-Revolution« hingewiesen hat: Es ist leichter, diese Revolution zu beschwören, als konkrete und harte Entscheidungen zu treffen, die nicht ohne Verzicht, nicht ohne Einschränkung bei der Verteilung der zuweilen üppig sprudelnden Naturalrente möglich sind.
Als Ausländer, der in Russland unterwegs ist, ist man immer wieder frappiert über das krasse Nebeneinander von Fortschritt und Rückständigkeit, so als lebte man gleichzeitig im 18.
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