Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
sich jedoch nicht automatisch die Konzentration und Zentralisierung von staatlicher Macht ab. Hier kommen geschichtliche Faktoren ins Spiel, Kraftlinien und Motivbündel, die ihren Ursprung nicht in Klima oder Bodenbeschaffenheit haben: die Erschließung der Rus von Byzanz aus und damit die Zugehörigkeit zur ostkirchlichen Sphäre, der Gegendruck, der vom mongolischen Weltreich ausging, das die Rus und Moskowien für lange Zeit vom lateinischen Europa abgetrennt und Russland auf seinen besonderen, nicht unbedingt auf einen Sonderweg gebracht hat. Carsten Goehrke, einer der wenigen Russlandhistoriker des deutschen Sprachraums, die sich seit jeher für die räumlich-geographische Seite interessiert haben, fragt, was denn gewesen wäre, wenn die Kontakte aus Kiew und Moskau nach Westen nicht abgerissen wären! Und ob es zum Vorstoß von Kosaken und Trappern bis zum Pazifik gekommen wäre, wenn der Weg durch ein mächtiges Reich versperrt gewesen wäre. Gewiss gab es so etwas wie die in den räumlichen Gegebenheiten begründete Sogwirkung – zuerst im Süden, dann im unendlich großen nordöstlichen Eurasien –, gewiss gab es die Flucht-, Ausweich- und Expansionsmöglichkeiten, die die Bildung von Gesellschaft vor Ort immer wieder zurückwarf und die Herausbildung von zivilen regionalen Gegenkräften zur zentralen autokratischen Macht behinderte, aber gewiss gab es keine Logik und keine Gesetzmäßigkeit, die sich aus den räumlichen Gegebenheiten allein ergaben.
Die moderne russische Geschichtsschreibung Kljutschewskis, die in vielem an die Leipziger Schule um 1900 und an die Schule der »Annales« erinnert – und es bestanden auch intellektuelle und persönliche Verbindungen –, ist Teil der allgemeinen Aufbruchstimmung in Russland um 1900, aber sie teilt auch das Schicksal der russisch-sowjetischen Moderne, die Anfang der 1930er Jahre nicht ohne Druck und Gewalt zu Ende kommt. Man könnte von einem Boom der historischen Selbsterforschung des späten Russischen Reiches, von einer breit angelegten, nichtstaatsfixierten, ethnographischen Selbsterkundung des riesenhaften Vielvölkerreiches sprechen, ein Vermessen der geographischen, ethnischen und kulturellen Räume des Russländischen Reiches. Aber diese intellektuelle und wissenschaftliche Arbeit bricht ab – für viele Jahrzehnte. Mit den Bolschewiki und mit der späteren Stalinisierung der Historiographie findet ein Paradigmenwechsel statt, der hier ebenfalls nicht ausführlich dargelegt werden kann. Aber so viel kann gesagt werden: In der allgemeinen Soziologisierung und Machtorientierung des Geschichtsdenkens, in der Fixierung auf den politischen und wirtschaftlichen Umbau des Landes verschwindet geradezu die Naturräumlichkeit, bzw. sie erscheint nur noch als Widerpart und Widersacher, als Feind, der mit allen Mittel bekämpft und besiegt werden muss. Modernisierungs- und Klassenkampfpathos wird nun auf die Auseinandersetzung mit der Natur übertragen, die Achtung vor der Eigengesetzlichkeit und Eigenmächtigkeit der natürlichen Verhältnisse wird als Objektivismus oder gar Defaitismus im Kampf mit der Natur denunziert.
Das Verschwinden des Raumes und die Produktion des sowjetischen Raumes
Alles ist von nun an möglich, die Landkarte der Sowjetunion wird neu gezeichnet, neue Magistralen, der Bau von Kanälen, neuen Städten und Industrierevieren verändern das Antlitz des Landes: In Gegenden, die bisher unzugänglich waren, werden Bodenschätze abgebaut – auch wenn sie jenseits des Polarkreises und im ewigen Eis liegen; der Lauf von Flüssen kann, wenn nötig, als »Fehler« der Natur korrigiert und umgeleitet werden; Wasserstraßen sollen die fünf Meere, die Europäisch-Russland begrenzen, verbinden, und die weitreichendsten Pläne sehen sogar den Bau von Wassermagistralen bis zum Pazifik vor. Entfernungen, die das Riesenland gelähmt hatten, werden durch technische Revolutionen zu Wasser, zu Lande und in der Luft wenn nicht beseitigt, so doch reduziert. Die Vernichtung von Entfernung ist ein Schlachtruf der 1920er und 1930er Jahre ebenso wie der Aufruf, sich zum Herrn der Zeit zu machen. Das revolutionäre Russland ist das Land eines radikalen Bewegungs- und Beschleunigungskults. Nirgendwo wird so sehr an die raumbewältigende und Russland aus der Rückständigkeit erlösende Kraft des Flugzeugs geglaubt wie in der UdSSR . Nirgendwo wird die Lokomotive so sehr zum Symbol und zur Metapher von Beschleunigung und Fortschritt wie in dem Land, das
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