Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Psychologie herstellt, von »Träumen von Tätigkeiten so weitläufig wie die Steppe«, »ruhelosem Analysieren« spricht und in einem Atemzug »die unermessliche Ebene, das rauhe Klima, das graue, rohe Volk mit seiner schweren, kalten Geschichte, das Tatarenjoch, die Bürokratie, die Armut, die Unbildung, die Feuchtigkeit der Hauptstädte, die slawische Apathie usf.« nennt, um dann zu schließen: »In W.-Europa gehen die Menschen zugrunde, weil es zu eng und zu stickig ist zum Leben, bei uns, weil zu viel Raum ist … Und Raum gibt es bei uns so viel, dass dem kleinen Menschenkind die Kraft nicht ausreicht, um sich zu orientieren.« 10
Die Eigentümlichkeit von russischem Raum und russischer Landschaft wird – so Felix Philipp Ingold in seiner Untersuchung – fast immer im Gegensatz zum westeuropäischen Raum gesehen. Die russische Landschaft erscheint als bestimmt von Feldern, Steppen, Wüsten, Wäldern, Weiten, Flächen, von mäandernden Flüssen, versehen mit einem tiefliegenden Horizont und einem hohen, alles überwölbenden Himmel. Die russische Landschaft ist fast immer eine Gegenlandschaft zur kleingliedrigen, von Buchten und Fjorden, von Mittelgebirgen und Hochgebirgen, von tief eingeschnittenen Tälern gekennzeichneten mittel- oder westeuropäischen Landschaft. Die menschlichen Siedlungen darin sind windschief, provisorisch, armselig, verschwinden darin geradezu, sind fast selber ein Teil der Natur. Aber es gibt darin auch die andere Seite: eine Weite, die Freiheit und Grenzenlosigkeit verspricht, Ungebundenheit, Umherschweifen im Raum, offen für Vagabundieren und Wanderertum, und die Bewegung der Pilger und Wanderer als Verkörperung des Nichtsesshaften, des Nomadischen. Die russische Literatur hat ihre Helden und ihre Verkörperungen dieser Landschaft, einer ungezügelten Freiheitsliebe, die Männer der Steppe, der Ungebundenheit, Nichtsesshaftigkeit.
Einer der beredtsten Sprecher einer Verbindung von Mentalität und Natur, von russischer Seele und russischem Raum, der Philosoph Nikolai Berdjajew, der nach seiner Exilierung aus Sowjetrussland kurze Zeit in Deutschland lebte, leitete den »russischen Nationaltypus« aus der russischen Umgebung her, er spricht geradezu von einer »Geographie der russischen Seele«: »Es gibt eine Entsprechung zwischen der Unfassbarkeit, Grenzenlosigkeit, Unendlichkeit der russischen Erde und der russischen Seele, zwischen der physischen und der psychischen Geographie. In der Seele des russischen Volkes ist eine ebensolche Unfassbarkeit, Grenzenlosigkeit, ein Streben nach Unendlichkeit wie auch in der russischen Weite. Deshalb wurde es dem russischen Volk schwer, diese riesigen Räume zu beherrschen und sie zu formen. Das russische Volk hatte eine gewaltige Kraft des Elementaren und eine verhältnismäßige Schwäche der Form. Das russische Volk war nicht vorzugsweise ein Volk der Kultur, wie die Völker Westeuropas, es war eher ein Volk der Offenbarung und Begeisterung, es kannte kein Maß und fiel leicht in Extreme … Zwei gegensätzliche Prinzipien haben der Formung der russischen Seele zugrunde gelegen: das natürliche, heidnische, dionysische Element und die asketisch-mönchische Orthodoxie. Man kann gegensätzliche Eigenschaften im russischen Volk erkennen: Despotismus, Hypertrophierung des Staates und Anarchismus, Freiheit; Grausamkeit, den Hang zur Gewalt und Güte, Menschlichkeit, Milde; Ritengläubigkeit und Wahrheitssuche; Individualismus, ein geschärftes Bewusstsein für die Persönlichkeit und unpersönlichen Kollektivismus, Nationalismus, Eigenlob und Universalismus, Menschlichkeit, die allen gilt; eschatologisch-messianische Religiosität und äußerliche Frömmigkeit, Gottsuche und militante Gottlosigkeit; Sanftmut und Frechheit; Sklaverei und Rebellion.« Hier wird eine Beziehung zwischen der Weite und Grenzenlosigkeit der Landesnatur und der spirituellen oder psychologischen Verfassung der dort lebenden Menschen hergestellt. Noch einmal Berdjajew zu einem seiner Meinung nach hervorstechenden russischen Charakterzug – der »Breite der russischen Seele«: »Weit ist der russische Mensch, weit wie die russische Erde, wie die russischen Felder. Das slawische Chaos tobt in ihm. Die Enormität der russischen Räume hat beim russischen Menschen nicht beigetragen zur Entwicklung von Selbstdisziplin und Selbstinitiative – er hat sich in diesen Räumen aufgelöst. Und das war nicht das äußere, sondern das innere Schicksal des russischen Volkes, denn
Weitere Kostenlose Bücher