Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
und im 21. Jahrhundert, im Zeitalter der Wegelosigkeit und von Hightech. Ein Land, das noch bis vor kurzem die zweite Supermacht war, vermag bis heute nicht ein einigermaßen intaktes Wege- und Straßensystem zu entwickeln. Sergej Mironow, bis vor kurzem Vorsitzender des Föderationsrates, hat einmal darauf hingewiesen, dass wenigstens zwei Dinge von der alten Großmacht Sowjetunion geblieben sind: die Nuklearwaffen und Gazprom. Das Land, das Weltraumstationen in Serie produziert hat, hat heute eine durchschnittliche Lebenserwartung – vor allem bei Männern –, die man sonst nur in Ländern der Dritten Welt antrifft: Sie liegt bei 61,4 Jahren!
In Moskau findet man heute Klubs, eine Jugend, einen life-style , der sich kaum von dem in London oder Amsterdam unterscheidet, aber schon 60 Kilometer außerhalb sind die Dörfer leergeblutet, die Infrastruktur zusammengebrochen, man stürzt gleichsam ins 19. Jahrhundert zurück. Ein Land, das Milliarden von Petrodollars angesammelt hat, vermag sein Bildungssystem, seine Forschung nicht aufrechtzuerhalten und verliert seine besten Köpfe in einem brain drain , der beispiellos ist – selbst gemessen an den Verlusten des 20. Jahrhunderts.
Die extreme Polarisierung zeigt sich nicht nur im Gegensatz von Metropolregionen wie Moskau und Sankt Petersburg einerseits und der abgehängten russischen Provinz, sondern auch in den Städten selbst: im Luxus, von dem wir in unseren Breitengraden kaum eine Vorstellung haben, und einer Lebenswelt der Ärmsten der Armen, der Ohnmächtigen und Wehrlosen, der Kranken und Schwachen, von der wir uns ebenfalls kaum eine Vorstellung machen können.
Ein Land ohne Mitte: Keine Modernisierung ohne Modernisierungskultur
Die Abwesenheit einer sozialen und kulturellen Mitte, des Moderaten und Durchschnittlichen gegenüber dem Exzessiven, Grenzen- und Maßlosen ist für viele, die zum ersten Mal in Russland sind, etwas nur schwer Verständliches. Und es dämmert einem, dass wir diese Art von Gegensätzen und Extremen eigentlich schon kennen, nämlich aus den Städten der Entwicklungsländer mit ihren korrupten politischen Eliten und einer Bevölkerung, die sich mit aller Kraft und erfinderisch über Wasser hält und das Beste aus einer heillosen Situation zu machen sucht.
Die Widerstände gegen eine Rationalisierung und Modernisierung in Russland sind gewaltig und tiefsitzend, man möchte fast sagen, sie zu überwinden scheint fast aussichtslos – gäbe es da nicht Beispiele, die immer wieder zeigen, dass der Weg der Modernisierung auch in Russland beschritten worden ist und beschritten werden kann.
Der Aufbau großer und erfolgreicher Unternehmen – seien es Industriebetriebe, Speditionen, Modernisierung der Eisenbahn – zeigt, dass wirtschaftliche Modernisierung möglich ist. Die Frage ist freilich immer: Sind das typische, repräsentative Beispiele oder eher Ausnahmen? Handelt es sich um punktuelle Errungenschaften, die von außen initiiert und gesteuert werden, oder sind es sich selbst tragende, im Land selbst verankerte oder Wurzeln schlagende Projekte?
Bekanntlich ist der Aufbau eines Werkes nicht bloß ein technisch-organisatorischer Vorgang, bei dem Pläne gezeichnet, Produktionslinien entworfen und gebaut, Hallen errichtet und dann mit Arbeitspersonal bestückt werden müssen. Immer spielen dabei kulturelle Faktoren mit: Ausbildung, Pünktlichkeit, zur Routine gewordene Disziplin und Beständigkeit. Jeder Arbeitsprozess braucht Kontinuität und Verantwortlichkeit, die auch dann vorhanden sind, wenn kein Kontrolleur in Sicht ist. Man muss sich für das Ganze, also für das Ergebnis am Ende zuständig und mit verantwortlich fühlen. Kurzum: Es geht um Einstellungen, Haltungen, die über lange Zeit hinweg, vielleicht sogar über Generationen vermittelt und angeeignet werden, von der Ausbildung von technischen Fertigkeiten und Qualifikationen ganz abgesehen.
Die Situation im nachsowjetischen Russland ist dagegen auch deshalb so schwierig, weil sie so unübersichtlich, ja chaotisch ist. Einerseits ist die alte Sicherheit – der Plan, die Garantie auf einen Arbeitsplatz – dahin, andererseits sind die Ansprüche und Lebenshaltungskosten im wilden Kapitalismus so sehr gestiegen, dass das gewöhnliche Leben schon einem Überlebenskampf gleichkommt. Einerseits gibt es keine Warenknappheit und keine Warteschlangen mehr, andererseits ist alles in der Regel teurer als auf einem Markt, in dem um den Kunden geworben werden muss und Konkurrenz
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