Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
eine Krise ausgebrochen ist, sondern weil der Erste Weltkrieg das Land an den Abgrund geführt hat, an dem die Revolution nur noch als das kleinere Übel, als Ausweg aus der Großen Katastrophe von 1914 erscheinen konnte.
Die sowjetische Modernisierung –
eine Bilanz des 20. Jahrhunderts
Die bolschewistischen Revolutionäre – die meisten von ihnen waren lange im Ausland und hatten eine Vorstellung von der modernen Welt – traten an, um Russland in die Moderne zu führen. In diesem Willen zu einem großen und modernen Russland waren sich die besten Geister ihrer Generation einig, egal ob bei den Konservativen oder auf der Linken. »Kommunismus ist Elektrifizierung plus Sowjetmacht« lautete Lenins Diktum.
Die Rhetorik der Modernisierung prägte alles. Sowjetrussland sollte führend werden auf allen Gebieten, nicht nur im Umbau der Gesellschaft: in der Architektur, im Film, im Erziehungswesen, im Design, in der Technik. Die Welle utopischer Projekte, die über das ehemalige Zarenreich hinwegging, spricht von einem unbedingten und rücksichtslosen Willen zur Moderne – mit allen, auch gewalttätigen Mitteln. Man könnte fast sagen: Je rückständiger eine Gesellschaft, umso mehr trumpft das utopische Denken auf – die Vorstellung vom Sprung aus der Rückständigkeit in die Zukunft.
Das Größte, was die russische Revolution zustande gebracht hat, war, den Bauern das Land, auf das sie seit Generationen gewartet hatten, zu überlassen. Die russische Revolution war eine Agrarrevolution, und das Land wurde danach aus einem Land des Großgrundbesitzes zu einem Land von Millionen Kleineigentümern – die Bauern waren auf ihre Kosten gekommen und waren zufrieden. Erst Stalin sollte ihnen zehn Jahre später das Land wieder wegnehmen, sie in eine neue, viel härtere Leibeigenschaft führen, um auf Kosten des russischen Dorfes die Industrialisierung zu finanzieren.
Aber die russische Revolution hatte auch andere, antimodernistische Züge. Durch Bürgerkrieg und Exil wurde die gebildete und leistungsfähige Elite dezimiert, sie kam um oder ging in die Emigration – ein ungeheurer Blutverlust an unternehmerischen und initiativreichen Elementen. Die russische Arbeiterklasse, das Ergebnis von zwei, drei Generationen, löste sich buchstäblich auf, als die Fabriken für Jahre stillstanden und die Städte hungerten oder weil angesichts des Mangels an qualifiziertem Leitungspersonal viele qualifizierte Arbeiter für den Staats- und Verwaltungsapparat rekrutiert wurden.
Dieser Modernitätsverlust drückte sich in vielerlei Formen aus: Knowhow verfiel, die schon einmal erreichten Niveaus der Arbeitsteilung und Spezialisierung wurden rückgängig gemacht, das Niveau der Bildung konnte nicht gehalten werden, es kam zu einer Nivellierung. Oft traten an die Stelle fachlich hervorragend ausgebildeter Leute – Ingenieure, Manager, Hochschullehrer mit internationaler Erfahrung – Leute, die von ihrem Fach nichts verstanden, dafür aber politisch zuverlässig waren. Nur dort, wo der Staat elementar angewiesen war auf das Knowhow der alten Spezialisten – d.h. vor allem im militärischen und technisch-industriellen Bereich –, war man zu Kompromissen bereit.
Der Anfang vom Ende: Stalins Revolution von oben
Doch der eigentliche Einschnitt, der die Sowjetunion im Grunde bis zu deren Ende formte, kam mit der Stalinschen »Revolution von oben«, der Kollektivierung der Landwirtschaft und der mit terroristischen Mitteln durchgeführten Industrialisierung während der ersten beiden Fünfjahrespläne (1929–1937). Es zeigte sich, was eine Diktatur zu bewegen vermag, und zugleich, dass die humanen Kosten so hoch waren, dass das Land sich nie mehr würde erholen können.
Stalin sprach 1927 von der notwendigen Kombination von »bolschewistischem Pathos und amerikanischem Pragmatismus«. Die Kollektivierung sollte aus einem Russland des Holzpflugs das Land der Traktoren und Mähdrescher machen. Die Bauern wehrten sich gegen ihre erneute Enteignung. An die zwei Millionen Menschen wurden deportiert, an die sechs Millionen Menschen starben in der Hungersnot des Jahres 1932. Opfer waren vor allem die leistungsfähigen und tüchtigen Bauern, die sogenannten »Kulaken«. Der mögliche Träger einer nach Millionen zählenden Schicht mittleren Bauerntums, aus der sich gewöhnlich der Mittelstand rekrutiert, war damit aus dem Weg geschafft und mit ihm Handwerkstraditionen, effektive Arbeitsformen, ein spezifisches Ethos. Hauptschauplatz des Umbaus
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