Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
existiert, da eben kein wirklicher Wettbewerb, sondern ein Monopol besteht. Einerseits tun sich viele neue Möglichkeiten auf, andererseits sind dafür aber nicht die nötigen Qualifikationen vorhanden und müssen oft erst – im Do-it-yourself-Verfahren – erworben werden.
Auch wenn es in Russland heute viel freier zugeht, hat sich die Macht der Apparate, die über Posten, Lizenzen, Arbeitsaufträge entscheiden, so sehr gesteigert, dass ohne sie nirgends mehr eine Entscheidung getroffen werden kann. Alle wollen von dem neuen Reichtum, den andere erarbeiten, etwas für sich abbekommen. Korruption ist nicht ein Auswuchs, sondern ein integraler Bestandteil des ganzen Systems, der alles am Laufen hält. In dieses Umfeld treten in der Regel ausländische Firmen mit ihren überkommenen Gepflogenheiten, Erwartungen, Umgangsformen ein, und in der Kontaktzone zwischen diesen beiden Unternehmer- und Arbeitskulturen kommt es zwangsläufig zu Reibungen und Konflikten. Diese Kontaktzonen sind das eigentliche Laboratorium und der eigentliche Erfahrungsraum der Modernisierung in Russland. Dort werden die praktischen Erfahrungen gemacht, die in den Lehrbüchern nicht vorkommen.
Um dies besser zu verstehen, ist es hilfreich, sich mit den jahrhundertealten Eigentümlichkeiten der russischen Arbeits- und Industriekultur zu beschäftigen.
Modernisierungsresistente Elemente
im vorrevolutionären Russland
Schon Juri Krischanitsch, Wegbereiter der Reformen Peters des Großen, des Modernisierers schlechthin, sah einen fundamentalen Unterschied in der Arbeitskultur von Russen und »Germanen«: »Unser Volk steht in der Mitte zwischen wilden und menschlichen Völkern … Wir sind langsam von Begriff und einfachen Herzens, sie aber sind voller List. Wir sind Bummler und Verschwender, wir führen keine Rechnung über unsere Einnahmen und Ausgaben, unsern Reichtum verschenken und verschleudern wir; sie aber sind geizig, unersättlich und ganz der Habgier ergeben. Tag und Nacht denken sie nur daran, ihren Beutel zu füllen. Uns aber verspotten sie wegen unserer Feste und unserer Gastfreundlichkeit. Wir sind faul bei der Arbeit und in der Wissenschaft ohne Fleiß; sie aber sind fleißig und versäumen keine günstige Stunde.« Auch vergaß er nicht, auf die Neigung »zu Trunk und Verschwendung« hinzuweisen.
Es scheint vielleicht weit hergeholt, am Anfang des 21. Jahrhunderts auf längst vergangene Zeiten zurückzugreifen. Doch Arbeitskulturen und Geschäftspraktiken werden über viele Generationen hinweg generiert und nicht in Crashkursen erworben. Es gibt verschiedene Arbeitskulturen. In Europa ist die Stadt der Ausgangspunkt für die Modernisierung geworden. Dort fanden sich die Gewerbe, Handwerksbetriebe und Zünfte, die mit ihren Spezialkenntnissen, Fertigkeiten und einem spezifischen Ethos die Basis für die Entwicklung der Arbeitsteilung abgaben und die über Händler und Kaufleute mit der Welt draußen, bald auch mit der überseeischen Welt verflochten waren. Neben effiziente Arbeitsteilung und Produktivität, neben rationale Haushalts- und Rechnungsführung trat jedoch, was die Städte in Europa erst zu dem machte, was sie waren: die Stadtfreiheit, zusammengefasst im Satz »Stadtluft macht frei«, damit der Geburtsort bürgerlicher Freiheiten und einer Wirtschaftsform, für die der Marktplatz, der Handel, die Rechtssicherheit in den Eigentums- und Geschäftsverhältnissen selbstverständlich waren. Für Russland lässt sich eine solche Entwicklung so nicht konstatieren. Russland war immer ein städtearmes Land. Der Satz »Stadtluft macht frei« spielte hier keine Rolle, auch wenn es immer wieder Aufstände von Stadtbewohnern gegen Bojaren und Zaren gegeben hat. Versuche, städtische Selbstverwaltung von oben zu verordnen, ein Bürgertum gleichsam künstlich einzupflanzen, wie von Peter dem Großen und Katharina der Großen unternommen, sind sämtlich gescheitert. Zwar gab es reiche Kaufmannsdynastien wie die Demidows und Stroganows, denen Territorien von der Größe westeuropäischer Staaten zur Ausbeute übertragen waren, aber es kam nicht oder erst sehr spät zur Bildung einer eigenen Klasse des Stadtbürgertums. Der Adel, der Grundbesitz, die auf der Anwendung von Leibeigenschaft basierende Wirtschaft dominierten. Das Dorf produzierte vor allem für sich selbst, war eine Subsistenzwirtschaft; was es brauchte, stellte es selbst her. So war in Russland auch das Dorf, nicht die Stadt die Heimat des reichentwickelten Handwerks. Es
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