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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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wie weit Europa schon einmal war, dass es einen Grad der Verdichtung, Kohäsion gegeben hat, der uns, den Nachgeborenen des 20. Jahrhunderts, sensationell erscheint. Solche Routen wären: Jugendstil und bürgerliche Gesellschaft im Fin-de-siècle – nicht nur Wien und Brüssel, sondern auch Riga und Oradea; Industrialisierung und Globalisierung vor der Weltkriegsepoche – die Textil- und Metallfabriken in Łódź und Petersburg; multiethnische Gesellschaften vor der Zeit der Entmischung – Triest, Saloniki, Lemberg, Wilna; der Zauber der Moderne, umbrandet von den Wellen des autoritären Europa – Brno/Brünn, Bukarest, Warschau-Mokotów. Man kann aber auch weiter zurückgehen in der Zeit und sich auf den Spuren der Hanse bewegen, die es vermocht hat, einen sichtbaren Zusammenhang zu stiften, der auch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts überdauert hat.
    Aber Europa, das nur ein Erinnerungsprojekt wäre, wäre verloren, ein Reservat für alte Leute, eine Art Themenpark und Puppenheim für den globalen Tourismus. Jeder, der sich umsieht in Europa, weiß, dass es pulsiert, arbeitet, funktioniert – über die Grenze von gestern hinweg, selbstverständlich, fast so, als hätte es eine Teilung nie gegeben.
    (2008)

Topographie des Verlusts:
Europäische und deutsche Erfahrungen
    Das Thema, das mir aufgegeben ist – »Eine Topographie des Verlusts: Europäische und brandenburgische Erfahrungen« –, eignet sich schlecht für einen »Festvortrag«. Selbst wenn wir uns das Schönste, das den Betroffenen verblieben ist – die Heimat im Kopf, die Erinnerung –, vor Augen führen, gelänge es uns kaum, den Schrecken derer, die davongekommen sind, abzustreifen. Wir könnten versuchen, von den verlorenen Landschaften zu sprechen: vom Sternberger Land, von der Neumark, von dem weiten Himmel im Memelland, von der Kurischen Nehrung, vom Ring in Breslau – es liefe alles nur auf eine harmlose und vielleicht sogar peinliche Kitschpostkarte hinaus, auf einen hilflosen Versuch der Vergegenwärtigung. Wir können nicht an den schrecklichen Vorgängen vorbei eine heile Welt phantasieren.
    Was ich hier sage, möchte ich nicht als rhetorische Wendung verstanden wissen, sondern als Einstieg in die Sache selber, nämlich in die Schwierigkeit, von einem Thema zu sprechen, zu dem sich der angemessene Ton nur schwer einstellt. Wenn Wolf Jobst Siedler recht hat, der vor langem einmal gesagt hat, dass die deutsche Literatur das große Epos zu Flucht und Vertreibung schuldig geblieben sei und man vergeblich auf ein Werk gewartet habe, das an Solschenizyns Epos heranreiche, wenn also selbst die Literatur ihre Schwierigkeiten hat, wie erst recht die Zeitgeschichte! Vielleicht sollte man, um das Problem zu entdramatisieren, einfach von den Schwierigkeiten sprechen und Beobachtungen mitteilen, die man bei der Beschäftigung mit dem Thema gemacht hat – und viele von uns haben Jahre damit verbracht; vielleicht sollte man einfach Gedanken aussprechen, die einem dabei gekommen sind. Aber so einfach ist das nicht.
    Wir sind nicht die ersten, die mit der Schwierigkeit des Sprechens anfangen. Auch Theodor Schieder hat anlässlich des Erscheinens der von ihm herausgegebenen fünfbändigen »Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa«, dem, wie Matthias Beer es genannt hat, ersten deutschen Großforschungsprojekt, davon gesprochen. In dem Aufsatz »Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten als wissenschaftliches Problem« von 1960 wies er auf die prekäre Lage des Zeithistorikers und auf den Unterschied hin, der zwischen der Vergegenwärtigung einer Geschichte, »die noch nicht ganz dem gegenwärtigen Leben entrückt ist«, und der »geistigen Wiedererweckung«, der »Verlebendigung einer restlos dem Tode verfallenen Vergangenheit« besteht. Wie soll er, der teilnehmende Beobachter, der beobachtende aktive Teilnehmer mit dieser Situation fertig werden? »Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten ist ein Stück der deutschen Katastrophe in der jüngstvergangenen Geschichte. Als Gegenstand der historischen Betrachtung enthält sie die ganze Problematik, die mit jeder zeitgeschichtlichen Forschung verbunden ist, ja diese Problematik ist noch vielfältig gesteigert: ein Ereignis, das in das Schicksal von Millionen unbarmherzig eingegriffen, seit Jahrhunderten gefügte Lebensordnungen zerstört und die Geschichte von Generationen annulliert hat, ist bei uns allen, die wir Miterlebende waren, so mit Gefühlsmomenten beladen,

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