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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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Geschehen in eine Sprache des geschichtlichen Begreifens zu bringen. Viele Argumentationen erweisen sich als unangemessen und hilflos. Freilich ist es wahr, dass man »dem Bösen« nachgehen muss, das in geschichtlichen Extremsituationen zum Durchbruch kommt, aber diese anthropologische Abstraktion führt gleichzeitig weg von der konkret-historischen Untersuchung. Freilich ist es wahr, dass die Austreibung der Deutschen – wie man so sagt – »im europäischen Kontext« zu sehen ist, aber eine »rhetorische Tröstung« (Michael Schwarze) oder eine versöhnende Einsicht liegt darin noch nicht, wenn man erfährt, dass auch anderen Gewalt angetan worden ist. Der Hinweis auf die europäische Dimension des Vertreibungsgeschehens bringt nicht unbedingt Licht in die individuelle Erfahrung, der Hinweis auf die europäische Dimension könnte sogar ein apologetisches, rechtfertigendes Argument sein; selbst der vergleichende Zugang ist zweischneidig: Der Hinweis, dass auch andere, wenn auch etwas anders, vertrieben, umgesiedelt worden sind, schafft nicht unbedingt Erleichterung. Es ist wahr, dass mit Umsiedlung und Vertreibung nur das Pendel der Gewalttätigkeit, das die Deutschen in Bewegung gesetzt hatten, zurückschlug, aber schon in diesem »nur« liegt eine Verkürzung, die Annahme eines Automatismus, eine »Logik der Vergeltung«, die in einer historischen Sicht der Dinge keinen Platz haben dürfte. Umsiedlung und Vertreibung als Strafe für die deutschen Verbrechen, darin liegt ein Gutteil Wahrheit, aber damit wird gleichzeitig verschleiert, dass es ja in der Regel nicht die Verursacher und Täter, sondern die Unschuldigen – die Zivilisten, die Alten, die Frauen, die Kinder – getroffen hatte. Die Rhetorik zum Vertreibungskomplex ist in besonderem Maße von Pseudologiken, Abstraktionen und einer Rhetorik der Zwangsläufigkeit erfüllt – was immer ein ziemlich gutes Indiz dafür ist, dass die historische Aufklärung noch viel Arbeit vor sich hat. Wenn der Komplex an und für sich schon außerordentlich schwer zu bearbeiten ist und vermutlich neue Formen der Narration entwickelt werden müssen, so kommt noch als das Gravierendste hinzu: dass die Politisierung und Ideologisierung im Alltagskampf der Gegenwart einer historischen Betrachtung entgegengestanden haben. Es lag in der Natur der Sache, dass Umsiedlung und Vertreibung Teil des politischen Interessen- und Weltanschauungskampfs im Nachkriegsdeutschland werden mussten. Diese Politisierung und Instrumentalisierung bildeten vermutlich über Jahrzehnte hinweg den wichtigsten Widerpart gegen das, was man »Historisierung« nennt. Fast unvermeidlich war es, dass nicht nur von historischen Vorgängen, sondern von Ansprüchen, die damit verbunden waren, die Rede war. Umkämpfte und umstrittene historische Fragen sind besonders anfällig für das, was Helmut Fleischer die »plädierende Geschichtsschreibung« genannt hat, also eine, die sich vorzugsweise im Argumentieren und Plädieren dafür oder dagegen bewegt und darin ihren Hauptberuf sieht und weniger in einer Geschichtsschreibung, der es darauf ankommt zu erzählen, wie es vielleicht gewesen sein könnte. Die Geschichtsschreibung zur Vertreibung ist aus vielen Gründen besonders anfällig für Rechthaberei und Moralisieren, für politische Instrumentalisierung. Die Historisierung des Vertreibungskomplexes hat seine Entpolitisierung, Entmoralisierung, Entideologisierung zur Voraussetzung. Die Alternative hierzu ist keineswegs die naive Vorstellung einer Forschung jenseits von »Erkenntnis und Interesse«, sondern es geht mehr um die Frage, wie temperiert, wie moderiert oder wie forciert die Geschichtswahrnehmung ist.
    Sie werden vielleicht fragen: Was sollen diese Ausführungen eigentlich, was will er nur mit diesen Exerzitien über das Selbstverständliche? Ich versuche mir mit diesen Vorüberlegungen gewissermaßen Luft zu verschaffen für die folgenden Ausführungen; denn ich bin überzeugt, wir werden nicht weiterkommen, solange wir nicht bewusst an der Schaffung eines theoretischen Raumes arbeiten, in dem ohne wechselseitige Verdächtigung Geschichten erzählt werden können. Die Stresssituation des Nachkriegs und des Kalten Krieges war für das Erzählen von Geschichten und für das aufmerksame Zuhören eine ungünstige Zeit. Ob sich diese Geschichten irgendwann werden zusammenfügen lassen oder ob es dafür noch zu früh ist – wenn sie sich überhaupt zu einer »Großen Erzählung« werden fügen lassen

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