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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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–, das steht noch dahin. Und braucht auch nicht unsere erste Sorge zu sein.
    Es gehört zur Erörterung der Möglichkeitsbedingungen geschichtlicher Erkenntnis, das eigene Interesse, den eigenen Bezug zur Sache mitzudenken. Nicht als Bekenntnis und nicht als Versicherung, die an und für sich schon Glaubwürdigkeit verbürgen könnten. Aber wenn man sich ziemlich lange in seinem Leben mit solchen Fragen beschäftigt, dann ist das ein gewisser Index für Vertrautheit mit einer Sache, einem Feld, einer geschichtlichen Erfahrung. Ich komme nicht aus einer Vertriebenenfamilie, ich bin kein Vertriebener, ich oder meine Eltern haben keine Heimat im Osten verloren – das ist eine wichtige Einschränkung, Begrenzung. In einer gewissen Weise kann man nicht mitreden. In einer anderen aber doch. Die Welt, in der ich groß geworden bin, ist ohne die Flüchtlinge nicht denkbar, ich würde sogar sagen, ich verdanke ihnen sehr viel. Und vieles, was ich in dem Film über »Brandenburg – Zweite Heimat« gesehen habe, könnte ich aus eigener Erfahrung aus dem schwäbischen Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, berichten. Sie waren die Fremden in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, sie waren die Interessanten und Inspirierenden, sie verkörperten die weite Welt und den Bezug nach draußen, sie waren mobiler, moderner, anregender. Für mich jedenfalls waren sie die Brücke nach draußen, sogar in den Osten: nach Breslau, Karlsbad, Znaim, Siebenbürgen – noch bevor ich dort gewesen war. Flüchtlinge – das waren: Frauen, die rauchten, die rotlackierte Fingernägel hatten, die ein kultiviertes Deutsch sprachen, Leute, die aus der Stadt kamen und wieder in die Stadt zogen. Das waren zum Teil Leute, die aus den Orten kamen, die ich später auf eigene Faust aufsuchte und in die zurückzukehren sie sich nicht trauten: Schlesien, Ostpreußen, Banat, weil sie das Bild, das sie gespeichert hatten, nicht verlieren wollten oder weil sie einfach immer noch Angst hatten. Das waren Leute, die ich dort dann in den 1980er und 1990er Jahre angetroffen habe, Leute, die wussten, wie es »vorher« war, und die mit einer Art von Geheimwissen herumliefen, das ich mir nur durch Lektüre aneignen konnte. Leute auch, die einem immer wieder klarmachten, dass man davon nichts verstand, weil man nicht selber dabei gewesen war, und die einen verdächtigten, man wolle ihnen etwas wegnehmen, die über ihr Vertriebenensein fast wie über ein Monopol, etwas, das nur sie hatten, wachten. Niemand außer ihnen sollte in diesen Dingen Bescheid wissen oder Bescheid sagen können. Und irgendwann war klar, dass man sich nicht zur Geisel ihrer alten Rechnungen machen lassen durfte, dass sie nicht nur ein Privileg des Sehens, sondern auch eine ordentliche Portion von Betriebsblindheit und Verblendung haben konnten. Es bleibt also dabei bis heute: Empathie und Distanz, Verstehen und Nicht-Dazugehören und Draußenbleiben. Auch hier handelt es sich nicht nur um einen bloß individuellen Befund. Ich glaube, dass die innere, die mentale Kluft zwischen Deutschen, die ihre Heimat verloren haben, und denen, die sie nicht verloren haben, nach wie vor existiert – obwohl äußerlich keine Differenz mehr feststellbar ist.
    Ich bin am Ende meiner Vorüberlegungen, die den Sinn hatten, den Raum zu öffnen, nicht gleich auf die Sache selbst loszugehen und dafür oder dagegen zu sein. Und meine Ausführungen werden folgenden Verlauf nehmen:
    Was ist der historische Ort des neuen Interesses am Vertreibungskomplex heute, wenn wir der Meinung sind, dass es nicht einfach ein fachlich-antiquarisches Interesse ist? Worin unterscheidet sich die gegenwärtige Konjunktur von früheren?
    Wie kommt es, dass eine europäische Erfahrung nach wie vor im Rahmen von nationalen Geschichten erzählt wird, und welche Schwierigkeiten müsste man überwinden?
    Was heißt es, sich die Topographien des Verlusts vor Augen zu führen? Was ist Europa, mit den Augen des Vertreibungserfahrenen betrachtet? Woraufhin wird Europa durchsichtig?
    Ist die Beobachtung, dass Vertreibungseuropa wieder bedeutsam oder relevant wird, zutreffend, und was ist der Grund dafür, dass wir es mit einer neuen Beschäftigung mit dem Osten – dem deutschen Osten, dem polnischen Osten usf. – zu tun bekommen werden (wovon ich überzeugt bin)?
    Postscriptum . Wie Sie wissen, gibt es seit einiger Zeit den Vorschlag, ein Zentrum gegen Vertreibungen – einen Komplex aus Forschung, Information, Gedenkstätte – in Berlin zu

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