Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
vielen Ebenen ab: im Kampf um Denkmäler, Straßennamen, Lehr- und Schulbücher, öffentliche Kontroversen um für das kollektive Bewusstsein zentrale Daten, Jubiläen, Feiertage, die Errichtung von Gedenkstätten und Museen. Fast jedes Land hat hier seine dramatischen Höhe- und Knotenpunkte, seinen Denkmalsstreit. Fraglos ging es um Re-Interpretationen des Geschichtsbildes, die fällig waren; ebenso oft ging es aber um veritable Kämpfe um die Deutungshoheit und Meinungsführerschaft. Die Tilgung von »weißen Flecken« an der einen Stelle war oft verbunden mit dem Entstehen neuer »weißer Flecken« an einer anderen. Und selbstverständlich geht es nicht um bloße Fragen der Geschichtswissenschaft und des Geschichtswissens, sondern um Fragen der nationalen oder kollektiven Identität, um die Gültigkeit oder Außerkraftsetzung einer sogenannten Meistererzählung.
Der Vergangenheitsdiskurs ist in vielen Fällen nur die verklausulierte und maskierte Form einer aktuellen politischen Auseinandersetzung, ein Stellvertreterkampf, ausgetragen in historischen Kostümen. Das macht sie interessant, relevant, aber auch gefährlich: Auseinandersetzungen um Geschichtsfragen werden instrumentalisiert für tages- und oft parteipolitische Interessen.
Es ist eine Frage der politischen Kultur, auch der Geschichtskultur, des Umgangs mit der Vergangenheit, wie solche Kontroversen ausgetragen werden: sachlich oder polemisch, forciert oder gelassen, ideologisch oder aufklärerisch, pluralistisch oder monolithisch, besserwisserisch oder einfühlsam, denunziatorisch oder an Aufklärung interessiert, nostalgisch oder gegenwartsbewusst. Es ist wie immer der Ton, der die Musik macht. Eine solche Geschichtskultur entsteht nicht über Nacht, und auch in Deutschland, wo man so stolz auf das Geleistete in Sachen Vergangenheitsbewältigung ist, hat es eine Weile gedauert und ist nicht ohne heftige Konflikte abgegangen. Warum sollte es anderswo nicht ebenso seine Zeit brauchen? Neue angemessenere, »wahrere« Geschichtsbilder lassen sich nicht dekretieren, sondern entstehen in einer ziemlich komplizierten Auseinandersetzung.
Es gibt kein »Osteuropa« an sich. Auch kollektive Erinnerungen sind speziell. So fraglos die Doppelerfahrung von Krieg und totaler Herrschaft das mittlere und östliche Europa geprägt hat, so war diese Geschichte immer eine Geschichte vor Ort, d.h. spezifisch. Daher gibt es überall eigene Diskurse, die um die je eigenen »Fälle« kreisen, seien dies positive Helden oder – was häufiger der Fall ist – Traumata. Ich wage es nicht, hier eine Liste aufzumachen. Die Auflistung der Debatten wäre weder vollständig noch gerecht. Diskussion um das Rotarmisten-Denkmal in Tallinn, SS - oder wechselweise NKWD -Kollaborateure in Riga, antijüdische Pogrome in Kaunas, die Debatte um Jedwabne und Kielce in Polen, die Minderheitenfrage und die Behandlung der Deutschen bzw. Ungarn nach dem Krieg in der Tschechoslowakei, der Streit um ein Denkmal für Bandera in Lwiw, der Streit um das »Haus des Terrors« in Budapest, um das Sighet-Memorial in Rumänien, die Auseinandersetzungen in Russland um die Öffnung der Archive, um die Auffindung der Orte der Massenexekutionen, um die »große nationale Erzählung« in den Schulbüchern. Und eine Geschichte Nachkriegsdeutschlands könnte man geradezu als eine Doppelgeschichte entlang der Geschichtsdiskurse schreiben – von den Debatten um das Holocaust-Memorial, die Wehrmachtsausstellung, einzelne Bücher oder Autoren wie Grass bis zur Frage der Errichtung eines zentralen Museums, das an die Geschichte der deutschen Heimatvertriebenen erinnert.
Erinnern und Gedenken oder Wie viel Erinnern erträgt oder braucht der Mensch? Es gibt eine Erinnerung, die vergeht: nämlich die aus eigener Erfahrung gespeiste, unmittelbare Erinnerung. Sie stirbt mit den Menschen und wird abgelöst durch ein Andenken und Gedenken, das vermittelt ist. Es kommt die Zeit, da es keine unmittelbare Erinnerung mehr geben wird. Wir, die Nachgeborenen, können die Erfahrungen, die andere gemacht haben, nie einholen. Und es gehört auch zu einer Gedenkkultur – im Unterschied zu einem zur Routine gewordenen Betrieb –, dass sie diesen Unterschied respektiert. Sich in den Erfahrungshorizont einer anderen Generation hineinzudenken ist nicht Sache eines Crashkurses oder gutgemeinter Ermahnungen, sondern ist Sache von Bildung, Takt, Feingefühl. An einer Erinnerung, die über der Vergangenheit die Gegenwart vergisst,
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