Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
daß für ruhige wissenschaftliche Einsicht noch kein Raum zu sein scheint. Die Schwierigkeiten zeitgeschichtlicher Arbeit komplizieren sich aber auch noch in anderer Weise: der Historiker begegnet, sooft er Ereignisse der nahen Vergangenheit behandelt, nicht selten dem Vorwurf von Mithandelnden, ihm fehle die Kompetenz, die persönliche Erfahrung, um Entscheidungen zu beurteilen, an denen er nicht selbst beteiligt gewesen sei.« Schieder warnt vor einer reinen »Erlebnistheorie«, die den Dabeigewesenen aufs Wort glaubt. »Vielmehr ist es unsere Aufgabe, nicht nur andere Zeiten und Völker, sondern auch uns selbst ständig ›historisch‹ zu nehmen, d.h. unter das Gesetz der forschenden Kritik zu stellen. Eine reine ›Erlebnishistorie‹ wäre keine wissenschaftliche Historie mehr; das alte Wort ›Erkenne dich selbst‹ gilt auch für den Bereich der geschichtlichen Forschung als ein oberstes Gebot. Wir müssen auch die schrecklichen Erlebnisse, die tiefen Gemütseindrücke auf eine höhere Stufe des Bewußtseins zu heben versuchen, indem wir sie in den großen geschichtlichen Zusammenhang stellen, aus dem sie für unser Bewußtsein gerade durch ihre alles Maß überschreitende Furchtbarkeit herausfallen.« 1
Man muss diesen Satz ernst nehmen. Er ist eine metatheoretische Reflexion über die Möglichkeitsbedingungen geschichtlicher Erkenntnis im Allgemeinen und über das Geschäft des Zeithistorikers im Besonderen. Man könnte diese ohne Mühe gegen Schieder selbst wenden: dass er nämlich vor dem »Erkenne dich selbst« haltmacht, dass er seine Kompetenzen als teilnehmender Beobachter, als Aktivist und Historiker der geschichtlichen Bewegung in Personalunion, als Autor der Polen-Denkschrift vom Oktober 1939 verschweigt, nicht thematisiert – aber dazu haben andere wie Götz Aly schon das Notwendige gesagt, und hier kommt es nicht auf eine Entlarvung an. 2 Wie lösen wir das von ihm benannte Problem: Wie bringen wir individuelle Erfahrung und den historischen Großvorgang »Vertreibung« zusammen? Wie lassen sich das sogenannte »Objektive« und das sogenannte »Subjektive« integrieren? Wie muss eine Darstellung aussehen, in der sich das Lokale mit dem Global-Weltgeschichtlichen verschränkt? Wie können Empathie für die Betroffenen und Erleidenden zusammengehen mit der Distanz der Nachgeborenen und der Haltung, die man braucht, um einen nüchternen analytischen Kopf zu bewahren? Wir wissen, wie Tolstoi es in »Krieg und Frieden« gemacht hat, aber wir wissen nicht, wie Historiker im 20. Jahrhundert es machen sollen. Man kann seine Zweifel haben, ob es eine derartige Geschichtsschreibung überhaupt geben kann – ein geschichtliches Epos und eine epische Geschichte – und ob eine solche überhaupt erstrebenswert ist nach dem Ende der »Großen Erzählung«. Ich glaube, dass die Vorüberlegungen wichtig sind, um die Grenzen historischer Erkenntnis sichtbar zu machen und bescheiden zu werden, besonders auf einem so umkämpften Feld wie der Geschichtsschreibung zu Flucht und Vertreibung.
Um es deutlich zu machen: Das Glaubwürdigste, weil durch eigene und existentielles Leiden Beglaubigte ist der Bericht von Betroffenen, die unmittelbare und ungehemmt subjektive Aussprache. An diese Berichte, von denen die »Dokumentation« Tausende von Seiten enthält und die für den Leser fast unerträglich sind, kommt nichts heran. Wir können nur zuhören. Schmerzerfahrung, Todesangst, Ausnahmesituationen – für das Geschehen charakteristische Zustände – lassen sich nicht übersetzen, nicht übermitteln. Im Moment, in dem von ihnen gesprochen wird, sind sie schon unwahr. Was aber, wenn wir überzeugt sind, dass Geschichte nicht »Bekenntnisgeschichte« ist und nicht einfach Betroffenen-Erzählung? Wenn wir nicht Bekenntnisse, sondern Berichte und Analyse haben wollen, die uns erlauben, eine Geschichte auf den Begriff zu bringen? Wenn wir nicht einem Authentizitätsfetischismus huldigen und als postmodern Aufgeklärte die Rede von der »unmittelbar gegebenen Wahrheit« als naiv durchschauen?
Schieder konnte seinerzeit mit dem Verweis darauf, dass es keine dokumentarischen Belege, sondern nur mündliche Berichte gebe, aus der Not eine Tugend machen. Seit der Öffnung der Archive ist den Berichten in vieler Hinsicht eine Kontroll- und Gegeninstanz erwachsen und stellt diese Forschung auf ein neues und breiteres Fundament.
Aber damit sind noch nicht alle Schwierigkeiten geschildert, das gigantische und unfassbare
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