Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
stimmt etwas nicht. Die Zuwendung zu Toten, die nicht getragen ist von der Achtung für die Lebenden, ist irgendwie unglaubwürdig. Es gibt neben einer allseits bekannten Geschichtsvergessenheit auch dessen Pendant – Geschichtsversessenheit, eine Obsession, die den Vorteil hat, dass man – vorübergehend wenigstens – der Gegenwart entgehen kann. 3 Manchmal bewegt man sich in der Vergangenheit, die übersichtlich und abgeschlossen ist, leichter als in der unübersichtlichen Gegenwart. Man kann sich hinter einer bewältigten Vergangenheit auch verstecken und der Gegenwart, die unendlich kompliziert ist, ausweichen – vorübergehend wenigstens. Die Betriebsförmigkeit der Erinnerung und des Gedenkens ist ein Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmt mit der Erinnerung. Erinnerung und Gedenken sind im Übrigen nicht beliebig machbar, nicht restlos verfügbar für irgendwelche »Erinnerungsstrategien« und »Geschichtspolitiken«, wie das im »Erinnerungsdiskurs« oft angenommen wird. Sie hat ihren eigenen Rhythmus, ihre eigene Dynamik.
Wenn es wahr ist, dass jede Generation die Geschichte neu schreibt, dann heißt dies, dass es keinen automatischen Transfer von Generation zu Generation gibt, dass die veränderten Bedingungen sich niederschlagen im Geschichtsinteresse und Geschichtsbild. Selbstverständlich sieht das Bild einer Generation, die nicht durch den Krieg, die nicht durch die Auseinandersetzung mit der Kriegsgeneration, sondern durch die neuen Verhältnisse – eine nun schon lebenslange Friedenszeit oder eine mehrere Generationen umfassende Immigration – geprägt ist, anders aus. Wie viel mehr gilt dies für die Reorganisation und die Komplikationen für ein neues, modernes Geschichtsbild in Staaten, die aus dem Zerfall eines großen Imperiums hervorgegangen sind! In der die nationalen Geschichten so sehr miteinander verflochten sind, dass natürlich auch die Karteien der Geheimpolizei in einer Sprache gehalten worden sind, ob man nun einen usbekischen oder ukrainischen oder litauischen Namen hatte – Arseni Roginski von »Memorial« berichtete über das Problem einer grenzüberschreitenden Datenbank heute. Wie wird eine moderne, den wirklichen Verhältnissen angemessene postkoloniale, postimperiale Nationalgeschichte, die sich nicht in nationale Begründungsmythen flüchtet, geschrieben? Das ist eine sehr komplizierte Frage.
Geschichtskultur und politische Ordnung. Ein freier Umgang mit der Vergangenheit ist nur in freien Gesellschaften möglich. Das ist eine Plattitüde, aber es ist wahr. Es gibt nicht die eine Geschichte, sondern, da es unterschiedliche Perspektiven und Wahrnehmungen gibt, auch unterschiedliche Deutungen. Der Zugang zu Archiven, die freie Publikation der Quellen, die Unabhängigkeit der Geschichtsschreibung und vor allem der Öffentlichkeit sind zwar nicht hinreichende, aber doch wichtige Voraussetzungen. Sie sind keine absolute Garantie gegen die Bildung neuer Mythen und Re-Ideologisierungen. Aber es geht nicht nur um Freiheit von Zensur, sondern um etwas viel Wichtigeres:
Eine angemessene Erinnerung und Geschichtsschreibung basiert auf einem Akt der Anerkennung der vorangegangenen Generationen. Es sind wir, die Lebenden, die den Toten ihre Stimme leihen – oder verweigern; denn sie sind verstummt, sie können nur sprechen, wenn wir ihnen zur Sprache verhelfen. Die Beziehung zwischen Lebenden und Toten ist asymmetrisch, denn wir, die Lebenden entscheiden darüber, wer Gehör findet und wer zum Schweigen verurteilt ist. Geschichtsarbeit ist Vergegenwärtigungsarbeit, basiert auf Anerkennung. Wie aber soll jemand, der schon die Lebenden nicht achtet, die Toten anerkennen? Es gibt also einen Zusammenhang zwischen dem herrschaftlich-autoritären Umgang im Heute und dem herrschaftlich-autoritären oder herablassenden Umgang der Nachgeborenen mit den Toten. Der Autoritäre gebietet über die Vergangenheit, er hat die Macht zu definieren, für ihn gibt es »die« Wahrheit. Eine angemessene, der Wahrheit möglichst nahekommende Erinnerung und Geschichtsschreibung hat ihren Hauptstützpunkt, ihr Biotop in einer zivilen Vergesellschaftung. Dort bilden sich die Fähigkeiten aus, die einer angemessenen Geschichte am meisten förderlich sind. Autoritäre Verhältnisse sind erinnerungsfeindlich. Eine reife Geschichtskultur und Zivilkultur gehören zusammen.
Rückkehr der Menschen auf den geschichtlichen Schauplatz. Es gibt meines Erachtens viele Desiderate. Eines ist – wieder ist es fast
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