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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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eine unzulässige Verallgemeinerung – das Verschwinden der Akteure im Schatten der Formation, des geschichtlichen Prozesses oder der Führerkulte. Die Bühne der Menschengeschichte ist leergefegt worden von Menschen. Und sie zurückzubringen auf die Bühne, ihnen ihre Namen, ihr Gesicht, ihre Physiognomie, ihre Biographie zurückzugeben, sehe ich als große Aufgabe. Wenn wir bedenken, dass wir gar nicht wissen, um wen es sich gehandelt hat, dass wir bis heute keine Lebensgeschichten von den kleinen und von den großen Menschen haben, dann wird uns vielleicht klar, wie tiefgreifend die Umwälzung war. Es ist fast so ähnlich wie das Verschwinden des banalen Alltags aus der Wahrnehmung und aus der wissenschaftlichen Analyse. Ein Paradebeispiel ist immer, dass wir Zehntausende von Monographien über die ZK -Diskussionen haben, aber – bis vor kurzem – keine einzige Studie über die »Kommunalka«, den zentralen Lebensort für mindestens drei Generationen von Sowjetbürgern.
    Die Schauplätze der Geschichte, revisited. Die Karte der europäischen Geschichtslandschaft wird neu gezeichnet. Dort wird es neue Einträge, neue points of interest geben. Lieux de mémoire sind keine Gemeinplätze, keine Metapher, sondern wirkliche Orte. Jede politische Ordnung kartiert und kodiert die Welt neu, bringt die eine Schicht zum Verschwinden und legt ein neues Zeichensystem über die bekannte Welt. So entstehen die kulturell, semiotisch und semantisch komplexen Texte, mit denen wir tagtäglich zu tun haben: Landschaften, Städte, öffentliche und private Räume. Die Landschaft des Ersten Fünfjahresplans von 1929 ist eine andere als die nach der Industrialisierungsschlacht mit ihren monumentalen Ruinen aus Eisen und Rost. Jede große Bewegung hat ihre Spur hinterlassen und andere getilgt. Nach 1989 ist eine große Zeit der Archäologie überall im östlichen Europa: die Geburtshäuser der verfemten Dichter, die Klöster, die zu KZ s umgebaut worden sind, die Exekutionsorte, die verwitterten Barackenkomplexe in der Lagerzone, Heimat, aus der man vertrieben wurde, Routen, auf denen die Deportationszüge fuhren. Kurzum: Der historische Schauplatz Europa wird – buchstäblich – neu vermessen.
    Europäische Erinnerung als work in progress . Raum der Erzählungen . Es mangelt nicht an Versuchen, ein europäisches Geschichtsnarrativ, eine europäische Geschichte auf einen Blick zu entwickeln: die Namen von Autoren wie Norman Davies, Geert Mak, Tony Judt stehen dafür. 4 Das spricht für das starke Bedürfnis, zu sehen und zu begreifen, wie alles zusammenhing auf diesem doch so kleinen Territorium, auf dieser Landnase des eurasischen Doppelkontinents. Aber solche Zusammenschauen haben meist etwas von der Vogelperspektive an sich: zu weit weg, als dass sie eine integrative Erzählung sein könnten, in der die vielen widerstreitenden Erfahrungen aufgehoben sind. Es kann sie auch nicht geben – vorerst jedenfalls nicht. Eine Erzählung kann nie weiter sein als die Erzähler selbst, und eine wahrhaft europäische Erzählung wird es erst geben, wenn sich so etwas wie ein europäischer Erfahrungshorizont herausgebildet hat, also nicht in absehbarer Zukunft. Das Optimum derzeit wäre nicht eine synthetische, wohl auch nur krampfhaft erzählte gemeinsame Geschichte, sondern der Versuch, die verschiedenen Erzählungen zu Gehör zu bringen. Das ist schwer genug, fast unmöglich, denn es ist auch eine Erzählung von Verletzungen und Kränkungen. Eine Geschichte der Zumutungen, eine Polyphonie der Geschichten, streckenweise dissonant und schmerzlich. Wenn die Europäer es aushielten, sich diese ihre Geschichten anzuhören, so wäre das mehr, als man derzeit erwarten kann. Dringlich ist also nicht die eine gemeinsame Geschichte, sondern dass der Raum, in dem die konkurrierenden Interpretationen und nationalen Narrative zu Gehör gebracht werden, nicht gefährdet wird.
    Nicht des Happyends wegen . Von Europa heute zu reden, ohne von seiner Kraft, Schönheit und Herrlichkeit zu sprechen, wäre ganz sinnlos; nicht deshalb, weil wir unbedingt ein Happyend bräuchten. An Europa zu arbeiten, ohne auch seinen unüberbietbaren Reichtum, seine Unterschiede, Kulturen, Sprachen, Kunstwerke zur Kenntnis zu nehmen, wäre zum Scheitern verurteilt. Das 20. Jahrhundert, das Europa so verwüstet und um seine Stellung in der Welt gebracht hat, ist nur eine Schicht. Es ist Zeit, auch die anderen freizulegen. Da gäbe es ein paar Routen, die uns vor Augen führen,

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