Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
starker, fast narkotisierender Duft. Es ist still, so still, wie es nur an Orten fernab von Städten sein kann, sogar ohne den Anflug eines fernen Rauschens. Wenn die Sonne untergeht, dringt die Kühle der Vorgebirgslandschaft bis zu den Gästen vor, die unter den Sonnenschirmen vor dem Restaurant Platz genommen haben. Vielleicht das Geräusch eines Traktors, vielleicht später der Chor der Frösche. Und eine dunkle Nacht ohne die Reflexe, die große erleuchtete Städte gegen die Wolken werfen. Breslau ist nur 60 Kilometer entfernt. Es ist ein Ort vollständiger Ruhe. Es kommt einem Eichendorff, der schlesische Dichter, in den Sinn.
Aber wer hierherkommt, kommt nicht, um dem Rauschen der Peile oder der vollkommenen Stille zuzuhören. Der Ort eines vollkommenen Friedens war einmal das Rückzugsgelände von Männern und Frauen, die es mit Hitler und seinem Regime aufgenommen hatten. Wer hierherkommt, ist nicht der Idylle auf der Spur, sondern den Spuren einer gewalttätigen Geschichte, des Einbruchs und Hereinbrechens der Katastrophe über eine beschauliche Welt. Helmuth James Graf von Moltke hat diese Welt davor beschrieben in einem bewegenden Text, verfasst hier, nur wenige Minuten von unserem Versammlungsort entfernt, im ehemaligen Gestapogefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße 8, wo er am 19. Januar 1944 eingeliefert worden war. An seine beiden Jungen schrieb er: »Meine Lieben, da ich gerade Zeit habe, will ich Euch erzählen, wie alles war, als ich klein war, denn vielleicht findet Ihr das schön.«
Wenn man sich als Besucher im heutigen Kreisau/Krzyżowa umsieht, dann kann man die Topographie der Kreisauer Welt ausmachen. Wer heute hierherkommt, weiß vielleicht von einer der schönsten erhalten gebliebenen Anlagen eines ostelbischen Gutssitzes in Niederschlesien, vor allem aber möchte er wissen und sehen, was aus ihm geworden ist. Man hat gehört vom Sitz des Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltke 1867 bis 1891, den ihm der preußische König und nachmalige Kaiser Wilhelm I. für seine militärischen Verdienste in den Einigungskriegen schenkte, so wie Bismarck mit dem Fürstentitel das Jagd- und Waldgut Friedrichsruh vor den Toren Hamburgs erhalten hatte. Doch in Wahrheit gilt alles Interesse dessen Urgroßneffen und dem Schicksal seiner Freunde und seiner Familie. George Kennan hat ihn so charakterisiert – und er war überaus karg mit solchen Charakterisierungen: »Ich sehe ihn im Moralischen als den größten Menschen an, im Geistigen als den am weitesten sehenden, erleuchtetsten, der mir, auf beiden Seiten der Front, während des Zweiten Weltkrieges begegnete. Schon damals – 1940 und 1941 – ging sein Blick über alle die schmutzige Anmaßung, über alle die Schein-Triumphe des Hitler-Regimes hinaus; er erriet die kommende Katastrophe und gewann in schwerem innerem Kampf es über sich, sie anzunehmen, auf sie sich vorzubereiten, wie er später seinen Mitbürgern dabei helfen wollte. Die Notwendigkeit verstand er: Es musste alles von Anfang an wieder getan werden, sei es inmitten von Niederlage und Demütigung, um der Nation ein neues Gebäude auf besseren Fundamenten zu errichten … Das Bild eines einsamen, ringenden Mannes, einer der wenigen protestantisch-christlichen Märtyrer unserer Zeit, blieb mir über all die Jahre hinweg eine Säule des Gewissens, ein steter Quell politischer und geistiger Inspiration.«
Nach Kreisau kommen auch Heimat- und Heimwehtouristen, die sich besser auskennen als alle anderen, denn ihnen sind die Gegend, die Täler, die Städte mit ihren Marktplätzen und Kirchen vertraut, sei es, weil sie dort ihre Kindheit verbracht haben, sei es, weil sie es von ihren Eltern erzählt bekommen haben. Kreisau ist dann ein Abstecher von Schweidnitz/Świdnica und Jauer/Jawor mit den hinreißenden Friedenskirchen, den Höhepunkten des schlesischen Barock und der schlesischen Toleranz.
Man sieht Gruppen von Jugendlichen, umherwandernd und im Gespräch vor allem mit sich selbst beschäftigt.
Oder man sieht die Eingeweihten von der Breslauer Universität umherwandern, die wissen, dass Krzyżowa ein lieu de mémoire deutscher Geschichte ist, oder vielleicht Zufallsgäste, die sich auf ihren Touren durch die Täler Schlesiens hierher verirrt haben und erstaunt sind, am Ende des Tals, am Fuße des Eulengebirges ein hochmodernes Kongresszentrum vorzufinden mit allem, was dazugehört: Rezeption, Hotel, Fitnessanlage, facilities .
Die Gäste wandern auf dem Gut umher, und unschwer ist
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