Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
zehrt. Damit war Kreisau wieder in den Horizont der Deutschen zurückgekehrt und Krzyżowa eine neue Bedeutung zugewachsen, damit war die Brücke zum alten Kreisau geschlagen und eine Kontinuität gestiftet worden, wie sie kein Stratege oder PR -Spezialist sich hätte ausdenken können. Das neue Kreisau löschte nicht die Erinnerung an das alte, sondern nahm seinen Geist, den genius loci , gleichsam wieder auf. Es war der Ort, in dem der bürgerrechtliche Widerstand Kontakt aufnahm mit einer älteren Geschichte, wo sich die Vordenker eines neuen, nachtotalitären Europas erkannten, anerkannten, miteinander geistig Kontakt aufnahmen. Das neue Kreisau verdankt sich der großen geschichtlichen Umwälzung, die 1989 Europa von Leipzig bis Bukarest, von Moskau bis Warschau, von Prag bis Sofia erfasst hatte.
Am Comeback von Kreisau und seinem Vermächtnis sind viele Kräfte beteiligt. Sehr früh schon – in den 1970er Jahren – kam eine Art Archäologie in Gang. Ein Rechtshistoriker – Karol Jonca – findet im Archiv seiner Fakultät die Unterlagen des an der Breslauer Universität eingeschriebenen Studenten Helmuth James von Moltke. Die Welt der Sozialreformer und der Arbeitslagerbewegung des Waldenburger Landes taucht wieder auf. Der Historiker und die Pfarrer am Ort, zuerst Kazimierz Kuznicki, dann Bołeslaw Kaluża, besichtigen den Ort und bringen die Gräber in Ordnung. Jenseits der Grenze arbeitet unterdes die science community an der Edition der Briefe, die mit auf die Flucht gegangen sind. Auf den Konferenzen, auf denen es um das geistige Erbe von Eugen Rosenstock-Huessy geht, wo der Nachlass der Opposition diskutiert wird, nehmen die Akteure miteinander Kontakt auf. Die Funken schlagen zwischen Amsterdam und Breslau, zwischen der amerikanischen Ostküste und Berlin. Die Überlebenden nehmen Verbindung mit den Nachgeborenen beidseits der Grenze auf, die Vertriebenen aus Schlesien mit den Vertriebenen aus den Kresy, den polnischen Ostgebieten, die Bürgerrechtler in Ostberlin mit den Bürgerrechtlern in Polen, die Leute vom Sprachenkonvikt mit denen vom Klub katholischer Intellektueller in Breslau, die Angehörigen der Generation der Kreisauer mit der Generation Solidarność.
Die Konferenz im Juni 1989 in Breslau – draußen tobt der Wahlkampf für die ersten halbwegs freien Wahlen in Polen, drinnen geht es um das geistige Erbe der Kreisauer – ist so etwas wie der Kurzschluss zwischen Linien, die so lange voneinander isoliert existiert hatten. Hier kam zusammen, was schon lange zusammengehört hatte. Kreisau, zu dem die Konferenzteilnehmer dann hinausgefahren waren, war der Katalysator, Bezugspunkt, der Verständigungsrahmen. Man kann das die Gründung des neuen Kreisau, vielleicht aber noch besser die Wiedergeburt Kreisaus nennen. Alles ging gut, weil alles stimmte. Es gab keinen Revisionismus, es ging nicht um Auf- und Abrechnungen, es ging um einen Aufbruch, um eine Neuentdeckung einer lange vergessenen Geschichte. Die Wiederentdeckung und Wiederbegründung Kreisaus war ein großes Gemeinschaftswerk, fast ein Gesamtkunstwerk, an dem sich ganz verschiedene Leute beteiligt haben: Professoren, Pfarrer, Theologiestudenten, Architekten, Kombinatsleiter, Politiker, Diplomaten und Ex-Diplomaten. Es war das Resultat einer grenzüberschreitenden Parallelaktion, zwischen Breslau und Amsterdam, zwischen Berlin und Vermont, zwischen Bonn und Warschau.
Hier ist etwas Symptomatisches geschehen: eine Begegnung freier, aber irgendwie gleichgesinnter Geister, etwas, was man seither Netzwerk, Vernetzung nennt, ein Zeugnis für die Kraft von Basis-Initiativen und für das Zusammenspiel mit der großen Politik, das manchmal gelingt. Herausgekommen ist dabei ein neuer Stützpunkt des neuen Europa, ein Punkt, wo Kraftlinien – alte und neue – zusammenlaufen. Es ist weit mehr als die Gründung eines Konferenzortes, es ist ein Stück gelungener doppelter Aneignung eines Ortes, der für uns, Deutsche wie Polen, hochbedeutsam ist.
Von diesem neuen Kreisau, in dem sich, wie Aleksander Kwaśniewski bei der Eröffnung der Internationalen Begegnungsstätte am 11. Juni 1998 gesagt hat, »die Jugend Europas« einfinden soll, ist nun die Rede. Die Themen, um die es dabei geht, sind allesamt im neuen Kreisau schon angeschlagen.
Eines ist gewiss: Kreisau als Begegnungsort, an dem gesprochen wird über die totalitäre Erfahrung im 20. Jahrhundert, über den Widerstand, über die Kraft des Wortes oder des »Lebens in der Wahrheit«.
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