Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Über die europäischen Freiheitstraditionen, insbesondere im mittleren und östlichen Europa. Es ist die Erfahrung der Gewalt und Gewalttätigkeit im letzten Jahrhundert. Natürlich geht es hier in erster Linie um den deutschen Nationalsozialismus und den sowjetischen Kommunismus.
Ein anderes großes Thema ist das Europa der Grenz- und Völkerverschiebungen. Eine der gewalttätigsten Auswirkungen des letzten Jahrhunderts waren die Bevölkerungstransfers im großen Maßstab, die »ethnographische Flurbereinigung«, die Massendeportationen, Umsiedlungen, Vertreibungen, die die fabrikmäßige Tötung der europäischen Juden miteinschlossen – Helmuth James von Moltke hat übrigens auf der Durchreise von Wien nach Suwałki im Mai 1943 die Kämpfe um das Warschauer Ghetto sehr bewusst registriert. »Unmixing Europe« hat der britische Außenminister Lord Curzon das 1923 genannt, als der erste große Transfer – der griechisch-türkische – ins Werk gesetzt war. Keine Nation im mittleren und östlichen Europa, die nicht davon betroffen gewesen wäre; keine Familie, die nicht in irgendeiner Weise hineingezogen worden wäre in den großen Verschiebebahnhof Europa. Dies wurde nirgends so sehr erfahren wie von den Völkern Ostmitteleuropas, den Völkern zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus. Dies wurde nirgends so erfahren wie in dem auf der Landkarte hin- und hergeschobenen Polen. Aber am Ende traf es auch die Deutschen selbst, die 1939 mit dem Wahn der ethnischen »Säuberung« begonnen hatten. Kreisau selbst steht exemplarisch für Grenzverschiebung, für doppelten Heimatverlust: für den Verlust Schlesiens und für den Verlust der polnischen Ostgebiete, aus denen die neuen Siedler kamen (und eine der Pionierinnen des neuen Kreisau, Dr. Ewa Unger) und das nun neu angeeignet werden musste: mit den Landschaften, den Häusern und Höfen, den Marktplätzen. Aneignung, das hieß oft oder meistens: Wiederaufbau einer vom Krieg verheerten Städtelandschaft, Besiedlung eines entvölkerten Landes. Schlesien mit seinen Städten ist eine dieser Regionen, von denen Adam Zagajewski formulierte: »Landschaft, schwer gebügelt«. Andere solche Landschaften in Europa sind: Wolhynien, Galizien, die Krim, Weißrussland, das ehemalige Ostpreußen, die alten Zentren polnischer Kultur: Wilno, Lwów. Auch: Thessaloniki, die dalmatinische Küste, Bessarabien, die Dobrudscha. Europa ist arm, jedenfalls ärmer geworden im Orkan der Säuberung, der bereinigten Grenzen, und es hat mehr als ein halbes Jahrhundert gedauert, bis die Städte und Landschaften des mittleren Europa sich wieder halbwegs erholt haben und neu erstanden sind. Wie viele Biographien sind durch diese Erfahrung geprägt worden! Kreisau/Krzyżowa wäre ein Punkt auf dieser Landkarte eines neu gesehenen Europa. Andere wären Seiny im Dreiländereck von Litauen, Polen, Belarus und Kaliningrader Gebiet. Solche Punkte sind auch Goricia/Görtz an der italienisch-slowenischen Grenze. Sarajewo, schwer geschlagen, aber wieder zu Kräften kommend, die Grenzzonen zwischen Tschechien und Bayern und Sachsen, der Streifen, wo die ungarische und slowakische Welt miteinander verwoben sind, die mährisch-kleinpolnische Ecke, Görlitz/Zgorzelec, Lublin mit seiner polnisch-ukrainischen Universität, natürlich Natolin bei Warschau oder weiter im Süden das New Europe College in Bukarest, die Villa Decius in Krakau, mehr im Westen das Collége d’ Europe in Brügge, die Central Europe University in Budapest und die Viadrina in Frankfurt an der Oder sowie das Collegium Poloncium in Słubice. Neu hinzugekommen ist jüngst die Europäische Humanistische Universität, früher in Minsk, jetzt im Exil in Vilnius.
Es geht natürlich nicht nur um die Vergangenheit, um die Geschichte, sondern um das Heute, um das Europa unter unseren Augen. Es entwickelt sich – allen Referenden und Kassandrarufen zum Trotz – für den, der Augen hat, zu sehen, und Ohren, zu hören. Die Frage ist, wo die Messpunkte sind, wo die Sonden aufgestellt werden. Europa wächst nicht so sehr aus Proklamationen, sondern aus den steten und oft nicht registrierten Kriechströmen, die Europa zusammenbringen, es wächst auf den Verkehrsachsen, auf denen sich der Austausch von Gütern, Menschen, Ideen sprunghaft vervielfacht hat. Wo einmal eine Große Grenze, ein Ende der Welt war, ist inzwischen die Grenzüberschreitung, Millionen Mal und Tag für Tag, zur Routine, zum Alltag geworden – dies ist immer der sicherste Beleg
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