Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
zu erkennen, worauf sie es abgesehen haben: das Schloss mit der Treppe, die von den Photos aus der Vorkriegszeit her bekannt ist, mit den Gemälden zu Preußens Gloria im Treppenhaus und dem einzigen Saal, der im Originalzustand wiederhergestellt worden ist, der Kapellenberg mit der Grabkapelle, den Gräbern, dem evangelischen Gemeindefriedhof. Vor allem aber: das Berghaus, etwas abseits gelegen und mit dem Rücken zu den Hofanlagen. Wiederhergestellt mit der von alten Photos her bekannten Veranda und der Freitreppe, der Treffpunkt des »Kreisauer Kreises«, der Schauplatz der drei Treffen: vom 22. bis 25. Mai 1942, vom 16. bis 18. Oktober 1942 und vom 12. bis 14. Juni 1943. Dies war der Tatort, an dem Deutschland und Europa nach Hitler gedacht worden ist. Es ging, so Moltke in seiner großen Denkschrift über »Ausgangslange, Ziele und Aufgaben« von 1941, darum, das Kriegsende als »eine Chance zur günstigen Neugestaltung der Welt« anzusehen. Hier formulierte Moltke in seinem Brief an Lionel Curtis 1943: »Für uns ist Europa nach dem Kriege weniger eine Frage von Grenzen und Soldaten, von komplizierten Organisationen und großen Plänen, sondern die Wiederaufrichtung des Bildes des Menschen im Herzen unserer Mitbürger.« Der schöne, liebliche Ort als Ort der Begegnung, der unverbrüchlichen Freundschaften, des todesbereiten Risikos im Kampf gegen die Tyrannei.
Kreisau als Geschichtsort: mit der vom Generalfeldmarschall noch angelegten Eichenallee, mit dem Schloss, der Kirche, mit dem Bahnhof, von dem aus Berlin, die Wohnungen in der Bendlerstaße und in der Hortensienstraße 50 in Lichterfelde-West schnell erreichbar waren, mit der Schule, in der die Kinder des Dorfes unterrichtet wurden, und der Ecke auf dem Friedhof, wo die russischen Zwangsarbeiter bestattet wurden. Auf dem Weg nach Kreisau passiert man die Hinweisschilder zum ehemaligen Konzentrationslager Groß-Rosen oder zu den Stellen, in denen die Zwangsarbeiter und Juden aus dem Arbeitslager Grädnitz begraben worden sind. Eine Landschaft, geschmückt mit dem Schönsten, was Schlesien zu bieten hat, und gezeichnet von entsetzlichen Leiden und Menschenverachtung. Eine deutsche Landschaft des 20. Jahrhunderts, die verloren war, noch ehe die Deutschen sie verlassen mussten. Auch dafür gibt es Zeugen: die Eiche an der Hofeinfahrt, an der die Liste mit den Namen der Deutschen, die im August 1946 sich zur Aussiedlung einzufinden hatten, befestigt worden war, der Weg, über den die Rote Armee ins Dorf eingezogen war, und der Weg, auf dem Freya Moltke das Dorf im Herbst 1945 mit Hilfe englischer Freunde endgültig verließ.
Kreisau verschwand, auch dem Namen nach, und blieb nur in den Akten oder in der Erinnerung erhalten. Aus dem einst ansehnlichen Gehöft wurde eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. An die Stelle der ausgesiedelten Deutschen traten Polen, die selber ausgesiedelt und vertrieben worden waren: aus den östlichen Gebieten Nachkriegspolens, die an die Sowjetunion abgetreten worden waren.
Als erstes verfielen die Gräber, die immer am schutzlosesten sind. Aus einem Ort, der einmal an die Welt angeschlossen war – und das gesellschaftliche Leben von Vorkriegskreisau reichte von London bis Kapstadt, von den Salons der Eugenie Schwarzwald in Wien bis Brüssel –, war ein Unort geworden, kurz hinter der neuen Grenze, ein Ort, von dem nur noch ganz wenige wussten, was es mit ihm auf sich hatte. So ging es sehr lange, 20, ja 30 Jahre lang.
Aber es gibt so etwas wie die Arbeit des genius loci , der keine Ruhe gibt. Durch eine geschichtliche Fügung und beherztes Zupacken trat der Ort wieder vor aller Augen. Dies geschah am 12. November 1989 in einer bewegenden Szene. Es geschah an der Stelle zwischen Schloss und Pferdestall, die hergerichtet worden war, unter einem Baldachin, unter dem der Bischof von Oppeln die Messe zelebrierte. Hier kam es zu der Begegnung von Tadeusz Mazowiecki und Helmut Kohl, mit der das neue Kreisau inauguriert war. Hier war etwas zum Abschluss gekommen: der mit dem Brief der polnischen Bischöfe aus dem Jahre 1965 eingeleitete Prozess des Aufeinander-Zugehens, und hier hatte etwas anderes begonnen: eine Normalität zwischen zwei Nachbarvölkern, die man sich nach allem, was von Deutschen in Polen angerichtet worden war, nicht hatte vorstellen können. Die Begegnung von Kreisau/Krzyżowa – das war drei Tage nach dem Fall der Berliner Mauer. Ein Moment des Glücks, von dem gewöhnlich eine ganze Generation
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