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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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Trottoirstein eines Gehweges, den es nicht mehr gibt, eine Redensart, eine Geste, eine Anspielung. Bahnhöfe mit Gleisen, die nirgends mehr hinführen, Bücher, denen die Bibliotheken abhanden gekommen sind, in denen sie einst katalogisiert waren.
    Wer sich in New Central Europe bewegt, um dort seine Geschäfte zu machen, wird es mit Geschichte zu tun bekommen, ob er will oder nicht, ob wir geschichtsbesessen sind oder nicht. Die Umstände sind einfach so. Es gibt fast keinen unschuldigen Ort mehr. Überall sind wir, nach den radikalen Vereinfachungen, Bereinigungen, Begradigungen und Homogenisierungen des zurückliegenden Jahrhunderts, mit der Rückkehr zu einer Komplexität konfrontiert, die die Stärke und den Zauber der mitteleuropäischen Verhältnisse ausgemacht hat, an deren Bewältigung die Mitteleuropäer aber gescheitert sind. Ob sie sie jetzt wenigstens aushalten?
    Andererseits aber wird es auch befreiende Erkenntnisse geben und versöhnlichen Trost, auch wenn es Wiedergutmachung für irreversiblen Schaden, für Schmerz und zerstörte Leben nicht gibt: die Erfahrung von Landschaften eines bisher nie gesehenen Zaubers. Es wird einen Ruck geben, eine Art Erschütterung, die sich einstellt, wenn man von etwas tief berührt wird. Ich bin tief davon überzeugt, dass es diesen Ruck geben wird. Viele werden sich fragen, ob man so etwas überhaupt wünschen soll oder ob man nicht eher Angst haben muss davor. Diese Neubegegnung wird zu einer neuen Beschäftigung mit dem europäischen Osten und dem einstigen deutschen und Geschichte gewordenen Osten führen.
    Es gibt für das, was das einmal war, noch keine angemessene Sprache. Freilich sind wir längst heraus aus der Sprachinselforschung, aus der Kulturbodenforschung, aus dem irgendwie völkischen Mief, aber zu einer Geschichte, die das beschreibt, was am deutschen und europäischen Osten modern, zivil, weltoffen, kosmopolitisch, vielleicht sogar »multikulturell« war, sind wir noch nicht vorgestoßen. Sie wird auch nicht einfach, vielleicht auch nicht lautlos zu haben sein. Es wäre naiv zu glauben, dass die Vervielfachung und Intensivierung der Beziehungen ohne Reibungen und Konflikte verlaufen könnte; das ganze Register von möglichen Verarbeitungsweisen wird durchgespielt werden – sicher nicht immer mit Takt und sicher nicht immer lautlos. Es wird das ganz übliche Nostalgische und Kitschige geben, um nur den harmlosen Fall zu erwähnen. Das kann man ja sogar beim jüdischen Tourismus back to the roots beobachten: bei der Zurichtung von Kazimierz nach der Dramaturgie Steven Spielbergs oder im Café Ariel am Marktplatz. Der Heimattourismus ist längst im Gang, er ist sogar schon ein Wirtschaftsfaktor für die Regenerierung ganzer Regionen geworden: der Heimattourismus der Deutschen in Polen und Ostpreußen, der Polen in Weißrussland, Litauen und in der Ukraine, der Balten und Polen in Sibirien oder Kasachstan, der Italiener in Slowenien und Kroatien. Der Tourismus von Kindern und Kindeskindern der aus Osteuropa stammenden Juden. Man soll sich über diesen Tourismus der Spurensuche mit all seinen oft geschmacklosen Arrangements und Routinen nicht lustig machen. Mit jeder Reise sickert ein Atom Wissen, Kenntnis, Vertrautheit in die Welt, die bisher nicht Notiz nahm von diesen abgelegenen Regionen. Ob mehr drin ist, ob sich mehr daraus machen lässt, wird man sehen. Ich bin der Überzeugung, dass entsprechend zunehmender Globalisierung und fortschreitender Amerikanisierung die Vergewisserung und das Interesse für diese geschichtliche Region wachsen werden. Vielleicht erleichtert es die neue lingua franca sogar, darüber miteinander ins Gespräch zu kommen.
    Erstes Postscriptum : Aus meiner eigenen Erfahrung möchte ich bekräftigen, dass Umsiedlung und Vertreibung keineswegs ein Thema sind, das nur die »Betroffenengeneration«, die sogenannte »Erlebnisgeneration« oder die Älteren interessiert. In einer meiner Vorlesungen über Umsiedlung und Vertreibung in Europa habe ich einmal herumgefragt, wer einen persönlichen Bezug dazu hat, und es stellte sich in dem deutsch-polnisch-ukrainischen Auditorium rasch heraus, dass es ein ziemlich großer Anteil war. Der eine hatte eine Großmutter, die aus Breslau kam, der andere eine, die aus Lwów kam, und wieder eine andere einen Großvater, der jeden Sommer von Słubice in die Gegend von Vilnius fährt, aus der er ursprünglich kam. Sehr rasch zeigt sich auch, dass es sich eben nicht nur um eine bilaterale, leicht

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