Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
Vom Netzwerk:
eingrenzbare deutsch-polnische Affäre handelt und dass die Ukrainer da durchaus mitzureden haben. Es gibt Fragen, die hängen mit der Konstitution Europas zusammen, und nicht, wie manche Leute glauben, mit dem biologischen Alter von Generationen. Die Frage von Umsiedlung und Vertreibung, aus denen unser heutiges Europa hervorgegangen ist, gehört zu dieser Art von Fragen.
    Zweites Postscriptum : Das Neubedenken des deutschen Ostens – eine Umwertung und Herauslösung aus dem nazistischen Diskurs – und seine selbstverschuldete Zerstörung bzw. Verlust sind ein zentrales forschungs- und bildungspolitisches Anliegen, ob im Unterricht, im öffentlichen Diskurs oder in der musealen Repräsentation. Diese Geschichte geht nicht auf in der Hitler-Zeit und in dem, was sie damit gemacht hat, sondern es ist eine reiche und komplizierte Geschichte. Sie ist kein Randphänomen, sondern ein Hauptereignis der deutschen Geschichte überhaupt. Jede Präsentation – ob im Schulbuch oder im Museum –, die dem nicht Rechnung trägt, verfehlt irgendwie etwas Wesentliches. Der verlorene deutsche Osten ist nicht allein Sache der Vertriebenen, sondern gehört sozusagen allen. Er ist zu wichtig, um ihn den Vertriebenen allein zu überlassen, und ihre Schultern sind zu schwach, um ihn sich allein aufzuladen. Um ihn neu zu denken und zugleich zu »dekonstruieren«, bedürfte es einer Art deutschen Edward Saids: des Versuchs einer Rekonstruktion des deutschen Orientalismus. 8
    Vor einiger Zeit ist die Präsidentin des Verbandes der Vertriebenen, Frau Dr. Erika Steinbach, mit ihrem Vorschlag an die Öffentlichkeit gegangen, ein »Zentrum gegen Vertreibungen« einzurichten. Man kann eine solche Idee im Grunde nur gutheißen. Aber es gibt darin einige Ungereimtheiten, die man auflösen sollte.
    Es ist niemandem benommen, ein Dokumentationszentrum zu organisieren, Ausstellungen zu arrangieren, Aufklärung zu betreiben usf. Unser Land ist reich – sowohl an finanziellen wie intellektuellen als auch an organisatorischen Mitteln. Wenn es eine private Initiative sein soll, wäre das sogar besonders zu begrüßen – vielleicht steigt die öffentliche Hand irgendwann ja ein. Und wenn es die Vertriebenen, die Landsmannschaften sind – umso besser. Ich habe einige der Versuche, die Geschichte in begreifende Bilder zu fassen, mir angesehen, z.B. das Museum der Donauschwaben in Ulm. Ich kann den Besuch dieses Museums nur dringend empfehlen. Es ist ein Einstieg in den unerhörten Reichtum der Geschichte und Kultur dieser Volksgruppe und der Region, in der sie gewirkt hat.
    Es soll sich aber um ein Zentrum handeln, das von der öffentlichen Hand finanziert wird – mit erheblichen Mitteln (Stiftungskapital von rund 160 Millionen DM ) dazu. Als Gegenstand erster Bedeutung für die nationale Geschichte gehört die Vertreibung in den öffentlichen Raum des Museums, und wenn es sich um eine europäische Einrichtung handeln sollte, wäre sie Sache eines europäischen Konsortiums, das dann aber auch über Konzeption, Standort, Leitung befinden müsste. 9
    Die Vergegenwärtigung dieser Geschichte nach dem Ende der ideologischen Schlachten – davon bin ich tief überzeugt – ist unausweichlich. Wenn wir diese Geschichte uns auf eine neue Weise vergegenwärtigt haben und sie mit Anteilnahme und Sorgfalt zwanglos erzählen können, dann spielt es nur noch eine zweitrangige Rolle, in welcher organisatorischen und institutionellen Form sie präsentiert werden wird.
    (2000)

Kreisau/Krzyżowa
    Als ich vor kurzem in Kreisau war, stellte ich mir vor, mit jemandem, der den Ort und seine Geschichte kennt, über das Gelände zu gehen. Mit jemandem, der dabei gewesen ist. Es gibt ja noch Menschen, die die Brücke in diese Zeit schlagen können, von der die Nachgeborenen ausgeschlossen sind. Zeitzeugenschaft ist ein uneinholbares Privileg, das durch nichts ersetzt werden kann, und es gehört zum Glück der Wiederentdeckung, der Wiederbegründung von Kreisau als einem historischen Ort, dass es jemanden gab, der diese Brücke zwischen den Zeiten schlagen kann: Freya von Moltke zuerst und vor allem. Wir Nachgeborenen müssen uns führen lassen von dem, was wir nachlesen können, und historische Vorstellungskraft tritt an die Stelle eigener Erinnerung.
    Im Frühsommer in Kreisau, das heute Krzyżowa heißt. Die Wiesen in den Auen des Flüsschens Peile/Piława und der Rasen im Karree zwischen den ehemaligen Wirtschaftsgebäuden und Stallungen sind gerade gemäht. Ein

Weitere Kostenlose Bücher