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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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dafür, dass sich etwas grundlegend geändert hat. Es gab eine Zeit, in den turbulenten 1990er Jahren, da schien ganz Europa auf den Beinen zu sein, im Ameisenhandel, auf den Basaren, an den Grenzübergängen und vor den Konsulaten. Die Bewegung ist mittlerweile in geordnete Bahnen gelenkt. Aber es ist keine Frage, dass das ganze Koordinatensystem sich verändert hat. Europa wird neu vermessen. Städte, die durch die Grenze getrennt waren, sind wieder zu Nachbarstädten geworden. Grenzlandschaften und tote Zonen sind zurück in den Strudel der Bewegung gezogen. Verkehrswege, die verwaist waren, sind wieder in Betrieb genommen. Jeder, der auf der Strecke Berlin-Breslau oder Posen-Warschau-Moskau unterwegs war, kann das bestätigen. Noch immer arbeitet man daran, den Stand, den Europa schon einmal erreicht hatte, wieder zu erreichen: in vier Stunden von Berlin nach Breslau zum Beispiel. Es geht hier nicht nur um Verkehr, Straßenbau, bloß Technisches, Infrastruktur, sondern um die Verfertigung des Lebenshorizonts, in dem wir fürderhin leben werden, darum, wo wir oder unsere Kinder studieren oder ihren Urlaub verbringen werden: nicht nur in Paris, sondern auch in Krakau, nicht nur an der spanischen Küste, sondern vielleicht in Nida oder Zakopane. Für Kreisau/Krzyżowa gesprochen, heißt das: Schlesien mit seiner grandiosen Metropole Breslau ist zurückkatapultiert in die Mitte Europas. Es mangelt an guten und schnellen Verbindungen. Es geht um die Herstellung von Nähe, die Produktion von Nachbarschaft, von neuen, gefestigten Alltagsroutinen. Kreisau ist längst nicht mehr der Ort »hinter den sieben Bergen«. Europas Vielgestaltigkeit, die Gemenge- und Mischlagen, an denen es so reich war, werden wieder sichtbar. Die Grenz- und Übergangsgebiete, früher einmal umstritten und misstrauisch beäugt, werden nun als Territorien mit einer doppelten Geschichte besonders bedeutsam, gleichsam zu Klammern und Scharnieren des neuen Europa.
    Kreisau ist einer jener Orte, wo und von wo aus sich die Schönheit Europas studieren lässt. Es ist das wahre Wunder, dass Europa nach der Katastrophe noch einmal die Kraft zu einem Neuanfang gefunden hat. Wer hätte geglaubt, dass Minsk und Warschau, das dem Erdboden gleichgemacht war, dass Königsberg/Kaliningrad oder Berlin je wieder bewohnte, bewohnbare Stätten sein würden. Europa hatte nach dem Krieg seine Zonen verbrannter Erde, seine entvölkerten Wüstungen. Es ist wieder zu Kräften gekommen und bietet nicht wenig Inspiration für alles Weitere.
    Die heutige Ausstellung im Schloss trägt den Titel »In der Wahrheit leben«. Und sie unternimmt den Versuch, den Widerstand von Bürgern in Europa gegen die Tyrannei gleich welcher Art zu zeigen. Hier findet man die Bilder von Andrei Sacharow und Helmuth James Moltke, die Kämpfer von Solidarność, die Unterzeichner der Charta 77 und den Dissidenten und Ex-General Petro Hrihorenko. Wir sehen Jacek Kuroń auf der Schlosstreppe und Wassyl Stus beim Rundgang im Lager. Es sind immer irgendwie sich gleichende, leuchtende Gesichter. Es sind immer Konfrontationen: die Drohgebärde eines Volksgerichtshofes und ein Angeklagter, der nichts hat als sein Wort. Es geht hier um Personen und Persönlichkeiten, nicht so sehr um Parteien – Moltkes »Partei der Gleichgesinnten«, eine Art überparteiliche Sammlungsbewegung; es geht letztlich um Haltungen, für die man einsteht, nicht um Meinungen, die man auch haben kann. In dieser Ausstellung sind die Stationen der europäischen Freiheitstradition im 20. Jahrhundert nicht nebeneinandergestellt, sondern zusammengedacht. Wer will, kann aus dem Tableau des bürgerschaftlichen Widerstands in Europa im 20. Jahrhundert seine Lehren ziehen.
    Europa wird neu zusammengesetzt, die Akzente werden sich verschieben, das östliche Europa braucht keine Stellvertreter mehr, sondern spricht mit eigener Stimme. Und erzählt seine Geschichte, die auf anderen Erfahrungen beruht als jene, die wir – im glücklicheren Westen – gemacht haben. Wir müssen lernen, dass es kein Monopol auf Erfahrung und kein Monopol auf die Definition der Geschichte Europas gibt, solange nicht alle ihre Geschichten erzählt haben. Damit hat Europa eben erst begonnen. Es ist im Grunde eine unerhört schöne und ergreifende Situation, wenn Geschichten, die nie erzählt werden konnten, endlich erzählt werden. Aber es ist auch unerhört schwer zuzuhören, denn es geht fast immer um Kränkungen, Erniedrigungen, Schmerzen, die jemandem

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