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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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zugefügt worden sind, um Gewalt und Gewalttätigkeit. Zuhören statt belehren, wahrhaben statt recht haben, Geschichten erzählen und Geschichten aushalten – dafür bedarf es eines Raumes, der durch Vertrauen geschützt und befestigt ist, in dem auch Missverständnisse in Kauf genommen werden können, weil das Fundament fraglos intakt ist. Hier verfällt niemand in Hysterie, hier treibt niemand ein kurzsichtiges Spiel um des parteipolitischen Vorteils willen. Auch hier geht es wieder um Errungenschaften der mitteleuropäischen Bürgerrechtsbewegungen, des von ihnen geprägten Stils und der von ihnen geprägten Öffentlichkeit. Dieser Raum ist stark genug, um Differenzen auszuhalten, weil es im Grundsätzlichen keinen Dissens gibt. In diesem geschützten Raum ist es möglich, Trauer über die verlorene Heimat zu empfinden, ohne des Revisionismus verdächtigt zu werden. Hier darf über Traumata gesprochen werden, ohne dass damit das Leid, das anderen zugefügt wurde, legitimiert oder relativiert würde. In diesem Raum herrscht der Respekt vor der Würde des anderen. Es handelt sich um eine neue öffentliche Kultur, die den Takt und die Intimität der alten Freundeskreise verbindet mit den Routinen der offenen Gesellschaft. Diese Öffentlichkeit ist in gewisser Weise immun gegen mediale Knalleffekte, ihre Haupttugend ist Gelassenheit, sie reagiert allergisch gegen alles, was nur nach Parteiengezänk aussieht. Die mitteleuropäischen Intellektuellen haben zu ihrer Zeit einen Terminus dafür geprägt: Anti-Politik, was gerade nicht heißt: sich aus der Politik herauszuhalten. Die Zeit für das Gespräch vor der Politik ist nicht vorüber, nicht die Intellektuellen sind passé, wie manche nach 1989 gemeint hatten, sondern ein Typ von Engagement, der nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist.
    Das alles sind Themen, die die veränderte Karte Europas aufgibt und über die sich an privilegierten Orten, wie Kreisau einer ist, sprechen lässt. Längst ist klar, dass es dabei nicht nur um Polen und Deutschland geht, sondern auch um viele andere Länder: die Ukraine, deren unerwartetes Auftauchen noch einmal die Karte Europas verschoben hat, die Staaten, die aus dem blutigen Zerfall Jugoslawiens hervorgegangen sind, es sind auch Städte darunter, die auf der Karte des neuen Europa selbstverständlich nicht fehlen dürfen: Sankt Petersburg, Moskau, Odessa, auch Istanbul.
    Für fast alles ließe sich ein starkes Zitat bei den Kreisauern, den Vordenkern des nachfaschistischen, des nachtotalitären Europa finden: über den einzigartigen Wert eines jeden Menschen und sein »Hier stehe ich und kann nicht anders«, über die Bedeutung der »kleinen Heimaten« – mała oiczyzna –, der Orte und Regionen, in denen sich das Leben abspielt, über Weltläufigkeit und Weltzugewandtheit, die immun machen gegen Beschränktheit und Provinzialismus, auch über die Verankerung im Glauben.
    Kreisau/Krzyżowa, das so lange aus unserem Horizont herausgefallen ist, ist wieder da. Es ist erreichbar, in wenigen Stunden. Es ist nicht bloß eine Idee, sondern ein Ort, ein Geschichtsort, eine Werkstatt. Kreisau, zu jeder Jahreszeit, besonders aber in dieser, ist ein Ort von großem Zauber. Vor allem aber ist es einer jener privilegierten Schnittpunkte, von denen aus Europa – das alte und das neue – neu vermessen werden.
    (2005)

Narrative der Gleichzeitigkeit oder Die Grenzen der Erzählbarkeit
von Geschichte
    Robert Musil lässt im »Mann ohne Eigenschaften« Ulrich darüber räsonieren, »daß das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend, sehnt, kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung! Jener einfachen Ordnung, die darin besteht, daß man sagen kann: ›Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!‹ Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten ›Faden der Erzählung‹, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht. Wohl dem, der sagen kann ›als‹, ›ehe‹ und ›nachdem‹! Es mag ihm Schlechtes widerfahren sein, oder er mag sich in Schmerzen gewunden haben: sobald er imstande ist, die Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufes wiederzugeben, wird ihm so wohl, als schiene ihm die Sonne auf den Magen. Das ist, was sich der Roman künstlich

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