Grenzlande 1: Die Verpflichtung (German Edition)
soll das bewirken?«, erkundigte er sich.
»Es soll uns zwingen, die Wahrheit über uns selbst zu erkennen«, sagte Kareste. Ich sah, wie sich die Tentakel um die Soldaten wickelten. Diejenige zwischen ihm und Slevoic schwoll derweil zu einer dicken, pulsierenden Schnur an. Der Magus ernährte sich erneut.
»Ach ja, Groskin sagte so etwas.« Slevoic zog erneut an seinem Stumpen. Seine blauen Augen und sein offenes Gesicht wirkten sanft und freundlich. »Ich kenne bereits die Wahrheit über mich, Auswurf. Und sie gefällt mir. Sie gefällt mir sogar sehr.«
»Wenn er ein Faena wäre und uns mit seiner Rune berühren würde …«, meinte Kareste. Sein Lächeln gefror, und er sah mich eindringlich an. »Ich will ihn lebend, falls möglich. Wenn nicht, dann will ich seine Leiche unversehrt.«
»Ja, Magus.« Slevoic leckte sich die Lippen. Er ließ den Stumpen fallen, und Flammen fauchten hoch, umhüllten ihn. Dampf stieg auf, als die Flammen auf den gefrorenen Boden trafen, und ich fühlte das Entsetzen des Waldes vor einem drohenden Feuerkampf.
»Sie zeigt nicht nur die Wahrheit über einen selbst, Tückischer«, sagte ich, ohne die Hand mit der Rune sinken zu lassen. »Sondern die Wahrheit.« Ich deutete mit einem Nicken auf den Tentakel, der jetzt so dick wie mein Unterarm war. »Was glauben Sie, ist das?«
Der brennende Mann sah sich um und blickte dann auf den Boden. »Was zur pockenverseuchten Hölle …?«
»Er saugt Sie aus«, erklärte ich. »Er mag seine Opfer jung und zart, gewürzt mit der Gabe.«
Slevoic schlug gegen den Tentakel; er schwoll an. »Nein.« Er packte ihn mit beiden Händen und zog daran. »Hört auf!« Er zückte sein Schwert, holte aus … Aber Kareste schnippte mit den Fingern, und Slevoic verdrehte die Augen, als er zusammenbrach. Dampfschwaden stiegen auf, und es zischte, als sein brennender Leib zu Boden fiel. Die Soldaten schrien auf, rissen sich los und flohen. Sie kamen bis zum Waldsaum, wo sie ausgelaugt zu Boden sanken.
Kareste sah mich an. »Und jetzt du, Schüler.« Seine Stimme klang wie ein Wintersturm in den Oberen Reichen.
Ich wartete nicht, bis er fertig war, sondern sprang ihn an und … prallte gegen eine Eiswand.
Kareste lächelte, als ich zurückfiel. »Kein Faena oder Zauberer, hm. Keine Schwerter, keine Kristallkugeln oder Drachen. Keine Regeln, kein ›Du sollst nicht‹.«
Ich versuchte, zur Seite auszuweichen, und traf auf eine weitere Wand aus Eis.
»Ich habe dich dreimal, nein, viermal unterschätzt«, sagte Kareste und zog eine Drachenkralle aus der Tasche. Er warf sie in den Dampf, der von Slevoic aufstieg.
Ich streckte eine Hand hinter mir aus, und meine Finger berührten Eis. Das Gleiche auf der anderen Seite. Auch der Boden war fest gefroren und schnitt mich von der Erde ab.
Kareste rammte den Totenstab tiefer in die Erde, und Prudences Mund bewegte sich, als er Macht sammelte. »Aber ich glaube, jetzt habe ich dich endlich richtig eingeschätzt.« Der Dampf nahm Form an, gefror, während er sich bildete.
Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass auch über mir eine Eisschicht hing, dachte ich einen Moment nach, hielt meinen Stab vor mich und suchte meine Mitte. Als ich die Balance gefunden hatte, hörte ich, wie der Wind eine Frage stellte. Wie ein Faena stellte ich eine Gegenfrage. Der Wind schlug um, als er meine Bitte aufs Meer hinaustrug.
»Du kontrollierst drei Aspekte, Schüler«, sagte Kareste. »Nun, ich ebenfalls. Wasser.« Er schnippte mit den Fingern, und erneut wirbelte Schnee auf. »Erde.« Er rammte den Stab wieder in den Boden, und die Erde schrie auf. »Und Feuer.« Er deutete auf Slevoic. »Was unsere Gaben angeht, sind wir uns gleich. Ich jedoch bin mehr, habe mehr. Mehr Wissen, mehr Erfahrung und vor allem: dies hier.«
Der eisige Dampf wurde dichter und bildete Schwingen, als sich aus dem Dampf ein Drache formte.
»Hast du dich nie gefragt, warum du keine Drachengeister oder die von Baumelfen sahst, obwohl du Teile ihrer Leichen hattest?«, erkundigte sich Kareste. »Sie gehören mir, so wie du einst mir gehört hast und auch wieder gehören wirst.« Er machte eine Handbewegung, und der Drachengeist setzte sich in Bewegung, in meine Richtung. Sein Eis schimmerte grün, purpurn und rosa, und seine Augenhöhlen waren so schwarz wie die des Totenstabs. Als er näher kam, riss er sein Maul auf, und ein Abgrund gähnte mir entgegen. »Gib nach oder lass dich verschlingen. Auch dann habe ich dich.«
Der Wind kehrte
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