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Grenzwärts

Grenzwärts

Titel: Grenzwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver G. Wachlin
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doch auch niemand auf, obgleich die meisten Kliniken in den seltensten Fällen von Nonnen geführt wurden.
    Aber auch das ist typisch für den Westen, fand Schwartz, da wird immer viel und aufgeregt über Nebensächlichkeiten und Begriffe debattiert. Das Wesentliche allerdings bleibt oft unangetastet. Was möglicherweise durchaus gewollt ist, denn wer sich an Details aufhält, wird das wirklich Wichtige nicht verändern.
    Die Dresdnerinnen waren da einfacher. Die redeten nicht über Emanzipation – die waren längst emanzipiert. Der Bauch gehörte den Frauen genauso wie der Kopf, und das schon seit Jahrzehnten. Da brauchte es keine Alice Schwarzer. Auch verdienten die Frauen genauso viel wie die Männer. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit war eine Selbstverständlichkeit. Bis die Mauer fiel.
    Es war eben nicht alles schlecht in unserer  DDR , sächselte Schwartz zu sich selbst und packte schließlich alle drei Koffer. Den großen genauso wie die beiden kleinen. Besser zu viele Klamotten dabeihaben als zu wenig.

4
    WAHRSCHEINLICH WAR ES EIN FEHLER.  Ganz sicher war es das, idiotisch, völlig bescheuert.
    Julia fuhr hinter dem schwarzen Porsche her. Kurz vor der Stadt war sie von Roland überholt worden. Er hatte gestikulierend die Hand aus dem geöffneten Schiebedach gestreckt und ihr bedeutet, ihm fortan zu folgen. Früher hatte Kudella im Kinder- und Jugendheim » A. S.  Makarenko« gelebt, aber er war ja jetzt volljährig. Jetzt musste er irgendwo hinter dem alten Schlachthof wohnen, denn Roland fuhr die Chopinstraße hinunter und stoppte schließlich vor einer verwilderten Kleingartenanlage.
    Ein süßlicher, schwerer Duft von überreifen Früchten hing in der Luft. Nur noch wenige Parzellen hier wurden regelmäßig bewirtschaftet, viele der Pächter waren in den Westen gegangen und hatten die Gärten sich selbst überlassen. Nun wucherte die Wildnis, zwischen aus der Form geratenen Buchsbäumen und ausladenden Holunderbüschen mit schon herbstlich welkem Laub wuchsen Stachel- und Johannisbeersträucher, die seit Jahren nicht mehr abgeerntet wurden. An vielen knorrigen Obstbäumen waren die Äste unter der Last von Birnen, Pflaumen und Äpfeln zusammengebrochen. Wespen schwirrten herum, trunken vom Überfluss des in der Sonne gärenden Fallobstes, und riesige Hornissen, vor denen sich Julia schon als Kind gefürchtet hatte.
    Kudella schlief wie ein Walross und war nicht wach zu kriegen. Es dauerte, bis sie ihn zu jener windschiefen Laube geschleift hatten, die offenbar sein Zuhause war. Die Tür war nicht verschlossen, und drinnen roch es nach Schimmel und abgestandenem Zigarettenrauch. Auf einem zersessenen Stuhl mit abgebrochener, notdürftig mit Klebeband befestigter Armlehne türmte sich alte Wäsche und in der Spüle schmutziges Geschirr. Es gab nur den einen Raum in der Laube. Links eine schmale Küchenzeile mit Campingkocher und Kühlschrank, rechts ein klapperiger Couchtisch, auf dem ein  RFT -Farbfernseher stand. Das letzte Modell aus  DDR -Produktion. Es hatte sogar eine Fernbedienung. Eine aufgeklappte Couch diente als Bett. Darüber hing die kaiserliche Reichskriegsflagge, ein schwarzes Balkenkreuz auf weißem Grund mit dem Preußenadler in der Mitte, dazu das Eiserne Kreuz vor schwarz-weiß-rotem Hintergrund im linken oberen Viertel.
    Julia fröstelte plötzlich. Ein Fehler, dachte sie immer wieder, ein Fehler, ein Fehler, ein Fehler … Plötzlich war ihr schlecht, sie stolperte hinaus vor die Tür und erbrach sich. Niemals hätte sie hierher zurückkommen dürfen.
    In Düsseldorf war es ihr noch wie eine wahnsinnig gute Idee vorgekommen, vor dem Soziologiestudium ein Praktikum in Zittau zu machen. An den Orten der Kindheit, in einem Land, das untergegangen war. Und war es nicht eine total spannende Frage, wie die einst sozialistisch geprägte Gesellschaft mit dem vollständigen Zusammenbruch ihrer Werte und Normen zurechtkam?
    Und natürlich hatte sie sich darauf gefreut, alte Bekannte wiederzutreffen, die Freunde aus der Kindheit. Aber was war aus ihnen geworden? Und was hatte sich Julia vorgestellt?
    »Hey!« Roland stand plötzlich neben ihr, berührte vorsichtig ihre Schultern. »Alles klar?«
    Natürlich nicht, würde sie sonst kotzen?
    Er sah noch immer aus wie Sonny Crockett aus »Miami Vice«. Mit vierzehn hatte sie das beeindruckt, aber jetzt? – Der Kerl war einfach lächerlich, auch ohne Porsche. Und Kudella hatte ganz klar ein Alkoholproblem und war offensichtlich zum Neonazi

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