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Grenzwärts

Grenzwärts

Titel: Grenzwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver G. Wachlin
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Mit so einem Leumund konnte Schwartz in der Kriminaldirektion nichts mehr werden. Das war so klar wie der Wiederaufbau der Frauenkirche. Umso wichtiger war es nun, bei Liliana Petkovic zu punkten.
    Aber wie, wenn er schon an der Frage scheiterte, welche Koffer er mitnehmen sollte? Den großen schweren oder die beiden kleinen? Wahrscheinlich war es egal, denn Schwartz würde ohnehin mit dem Wagen fahren, da machte ein schwerer Koffer nichts.
    Obwohl die beiden kleinen womöglich praktischer waren. Da konnte er in den einen die Sachen für die warmen Herbsttage packen und in den anderen die Winterklamotten, falls es kälter wurde.
    Doch passte Schwartz’ dicker Wollmantel überhaupt in den kleinen Koffer?
    Gedankenverloren ließ der Oberkommissar etwas Luft ins Schlafzimmer und sah hinaus auf die Straße. Klaviermusik drang an sein Ohr, denn direkt gegenüber befand sich die berühmte Ballettschule von Gret Palucca. Ein lang gestreckter Plattenbau an der Wiener Straße, dessen Fenster weit offen standen. Das Allegro Moderato aus Tschaikowskis »Schwanensee« wurde in regelmäßigen Abständen von manchmal schrillen und meist energischen Stimmen übertönt, die kommandogleich  »Écarté devant«, »á la seconde«  und  »Retiré«  forderten.
    Lauter Schwäne, die tanzen wollten. In hautengen Gymnastikanzügen, kerzengerader Haltung und mit erhobenem Kopf übten sie stundenlang an der Barre. Jeden Tag. Es hatte etwas Beruhigendes. Die Ballettschule gab es seit über sechzig Jahren. Da konnte draußen das Verbrechen grassieren und die Politik kopfstehen, – bei Gret Palucca wurde eisern der Pas de deux geübt, selbst als in Berlin die Mauer fiel. Und solange drinnen getanzt wurde, konnte das Draußen so schlimm nicht sein.
    Gleich nach der etwas verunglückten Freistellung durch Kriminaldirektor Habersaath war Schwartz ins sächsische Landeskriminalamt gefahren. Es befand sich in der Neuländer Straße, in den Gebäuden der ehemaligen Offiziershochschule »Artur Becker«, und es roch. Typischer  DDR -Geruch, so hatte früher alles gerochen, Kasernen, Meldeämter, polytechnische Oberschulen und Krankenhäuser. Auch der Pentacon-Diaprojektor, mit dem ihn Liliana Petkovic zum, wie es jetzt neudeutsch hieß, »Briefing« empfangen hatte, stammte noch aus volkseigener Produktion. Mit klackend wechselnden Fotos hatte sie ihn buchstäblich ins Bild gesetzt. Um plötzlich unvermittelt zu fragen:
    »Sehen Sie mir auf den Hintern?«
    Diese plötzliche und vom Thema völlig abweichende Frage hatte Schwartz total verwirrt. Zugegeben, er war möglicherweise gedanklich etwas abgeschweift. Hatte vielleicht über die Kleidung der taffen  LKA -Frau nachgedacht, über ihren Schlabberpulli und die weite Cargohose; als wolle sie ihren Körper vor ihm verbergen. Dabei musste Liliana Petkovic schon aufgrund ihrer Polizeiausbildung durchtrainiert und knackig sein, ganz sicher hatte sie eine recht ansehnliche Figur. Aber davon war nichts zu sehen, insofern ließ sich auch ihr Hintern nur erahnen.
    »Amerikanische Studien haben ergeben, dass Männer attraktiven Frauen weniger gut zuhören können als unattraktiven, verstehen Sie?«
    Absolut nicht. Worauf wollte sie hinaus? War es Anmache? Oder ein psychologisches Spiel?
    »Ich höre Ihnen zu«, hatte Schwartz eilig versichert. Völlig unnötig, denn Liliana Petkovic war der festen Überzeugung, dass er genau dazu, würde sie sich in Minirock und bauchfreies T-Shirt kleiden, nicht in der Lage sei.
    Irritierend fand Schwartz das und ziemlich kompliziert. Vermutlich hatte es mit der etwas hysterischen Emanzipationsbewegung im Westen zu tun. Deren seltsame Auswüchse waren allmählich auch in Dresden zu spüren. Weibliche Fachkräfte hießen jetzt Fachfrauen, und in den Zeitungen gab es eine Inflation des großgeschriebenen »Innen«. Im Landtag saßen keine Politiker mehr, sondern PolitikerInnen. AnwältInnen verteidigten TäterInnen, selbst ein Armeegeneral mutierte zur GeneralIn. Einer Frau die Tür aufzuhalten oder ihr in den Mantel zu helfen, galt plötzlich als verpönt, wenn nicht sogar als sexuelle Anmache, und das Fräulein verschwand in nahezu atemberaubender Geschwindigkeit aus dem deutschen Sprachgebrauch.
    Was an dem Begriff »Fräulein« diskriminierend sein sollte, hatte Schwartz nie verstanden, denn wie sollte man kinderlose, unverheiratete Frauen, die das Mädchenalter bereits hinter sich gelassen hatten, sonst bezeichnen? Über den Begriff »Krankenschwester« regte sich

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