Grenzwärts
durchdrehenden Reifen davon.
»Ist nicht dein Tag heute, wie?«, erkundigte er sich mitfühlend, als sie die Görlitzer Straße hinunter Richtung Altstadtring fuhren.
Julia antwortete nicht. Sie tupfte sich die Lippen mit einem Taschentuch ab und schnäuzte sich dann.
»Wo willst du denn überhaupt hin?«, fragte Roland.
Am liebsten nach Hause, dachte Julia.
Mann, was hatte sie gelitten damals, als sie hier so über Nacht mit ihren Eltern weg- und alles zurücklassen musste. Sie hatte gedacht, sterben zu müssen ohne die alten Freunde. Und sie hatte es satt. Sie wollte nicht immer wieder neu umziehen müssen, immer neue Orte, immer neue Leute … Erst Berlin, dann Zittau, dann Düsseldorf. Ganz weit hinter der Mauer im Westen, ohne Aussicht, je wieder zurückzukönnen.
Aber dann hatte sie sich doch schnell eingelebt in der Stadt am Rhein, schneller jedenfalls als ihre Eltern. Vater kam nie über seine DDR hinweg. Er hat einfach nicht verkraftet, dass sie ihn rausgeschmissen hatten, ausgebürgert, nur weil er anderer Meinung war als die Partei- und Staatsführung. Weil er die Freiheit der Kunst verteidigte, auch und gerade im Sozialismus. Aber das war wohl schon zu viel. Mutter dagegen richtete sich ein in Düsseldorf, sie machte einfach weiter und genau das, was sie schon in der DDR immer gemacht hatte: Schmuck. Mit Muscheln, Bernstein und billigen Glasperlen. Einfach, aber schön. Sie mietete einen kleinen Laden und nannte ihn »Zlunker« – was nichts anderes hieß als »Zonenklunker«. Die Sache wurde bald ein Hit in der Düsseldorfer High Society. Muttis Schmuck ging weg wie warme Semmeln. Schon ein Jahr später konnte sie ihre »Zlunker« in einem teuren Geschäft auf der Kö verkaufen.
Julia dagegen wechselte aufs Gymnasium und machte im vergangenen Frühjahr ihr Abitur. Note zwei Komma fünf, für Soziologie reichte das. Sie wollte immer Soziologie studieren, die Systematik des Handelns begreifen, die Ursachen und Folgen des Zusammenlebens, das Spiel der gesellschaftlichen Kräfte, den menschlichen Makel. Der hatte ihr immer zu schaffen gemacht. Sie war anders, nie cliquenfähig, ein Außenseiter. Obwohl sie keiner sein wollte. Andere gingen zusammen ins Kino oder zu McDonald’s, hatten Freunde und beste Freundinnen, mit denen man sich zum Shoppen verabreden konnte. Julia dagegen fühlte sich immer wie ein Zuschauer, der von außen etwas betrachtet, ohne wirklich dabei zu sein. Als wäre da eine imaginäre Glasscheibe, die sie von den anderen trennte. Obgleich sie durchaus immer freundlich behandelt wurde, anders als zu Anfang in Zittau. Die Düsseldorfer waren nett zu ihr, oft mitfühlend, weil sie ja aus der Zone kam. Trotzdem, oder deshalb, gehörte sie nie wirklich dazu. Die einzigen Freunde, die Julia je hatte, waren Roland und Kudella. Vor allem Kudella. Aber der war hinter der Mauer. Praktisch gestorben.
Dann fiel die Mauer, aber das wurde in Düsseldorf in etwa so registriert wie ein Erdbeben in Fernost. Nur Julias Eltern waren völlig außer sich und fuhren sofort nach Berlin. Julia blieb in Düsseldorf. Was sollte sie auch in Berlin? Wenn’s nach Zittau gegangen wäre, okay. Aber so …
Erst jetzt, nach dem Abi, kam ihr der Gedanke: Zittau, schauen, was aus den alten Freunden geworden ist, und ein geeigneter Ansatz fürs Studium. Gleich rein in die Praxis, die soziologischen Aspekte einer Gesellschaft im Umbruch erforschen und den Finger in die Wunde legen, wo es wehtut.
Jetzt tat es weh. Und wie! Sie war einfach zu nah dran. Die trennende Glasscheibe war verschwunden, plötzlich fühlte sie sich mittendrin und vollkommen überfordert.
Kudella ein Nazi! Das ging ihr an die Nieren. Und Roland? Hübscher Junge, immer noch. Aber sonst: Vergiss es!
Ja, es war ein Fehler, sie hätte ihr Praktikum genauso gut in Hamburg machen können oder in Düsseldorf bei irgendeinem wahnsinnig sozialen Projekt. Auch im Ruhrgebiet brachen alte gesellschaftliche Strukturen zusammen, seit die Kohle zu teuer und die Stahlindustrie nicht mehr rentabel war. Genug Ansätze für soziologische Studien. Stattdessen war sie nun hier. In Zittau. Willkommen in der Wirklichkeit!
Sollte sie aufgeben? Einfach zurückfahren? Nach nicht mal einem halben Tag?
»Ich hab doch gewusst, dass es hier im Osten eine rechte Jugendkultur gibt«, sagte sie schließlich leise und mehr zu sich selbst. »Nun muss ich mich dem eben stellen. Empirische Forschungsarbeit.«
»Was?« Roland sah sie groß an.
»Nichts«,
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