Grenzwärts
Wasser. Eisig drang es durch Anorak und Wollpullover bis auf die Haut. Von allen Seiten, wie Tausende kleiner Nadeln. Entsetzt wollte sie sich wieder aufrichten, doch die hölzerne Zuggabel des davontreibenden Karrens knallte ihr so hart gegen den Kopf, dass sie das Bewusstsein verlor und zurück in den eiskalten Fluss klatschte.
22
AUSREICHEND SCHLAF ist wichtig. Im Schlaf schöpft der Körper neue Kraft, und es regeneriert sich der Geist. Während wir dahinschlummern, schaltet unser Hirn nicht ab, im Gegenteil, es verarbeitet das Erlebte, die Eindrücke des Tages, sortiert die Gedanken und kommt, wenn es gut läuft, auch zu völlig neuen Schlussfolgerungen.
Schwartz mochte den Schlaf deshalb sehr, gerade nach anstrengenden Tagen. Wenn nichts mehr ging, legte er sich hin. Um nach dem Aufwachen nicht nur neue Energie, sondern vor allem auch völlig neue Erkenntnisse zu haben. Diesmal war in seinem Kopf etwas über Ursula Kuhnt herangereift, und es hatte nichts mit all diesem verdeckten Ermittlerkram der Liliana Petkovic zu tun. Im Gegenteil, es war eine ganz einfache Sache – wie üblich, denn grundsätzlich neigt der Mensch ja zu komplizierten Überlegungen und übersieht dabei das Naheliegende. Plötzlich aber war die Sache sonnenklar. Schwartz schien kurz vor der Lösung seines Falles zu stehen, doch dann schwand alles dahin. Wegen eines seltsamen Geräusches. Ein eigenartig elektronisches Düdeldüdeldü riss ihn aus dem Schlaf mit seinen so überzeugend einfachen Ideen.
Düdeldüdeldü – düdeldüdeldü …
Verdammt, was war das?
Schwartz hatte sich erhoben und stieß im Dunkeln schmerzhaft gegen einen Stuhl. Und dann spürte er seine Aktentasche. Kam das Düdeldüdeldü tatsächlich aus seiner Aktentasche?
Vorsichtig bückte er sich und machte die Tasche auf. Düdeldüdeldü, piepste es, und ein Display leuchtete ihn giftgrün an: »Anruf!«
Das Funktelefon, na, das ging ja prima los! Wer, verflucht noch mal, rief jetzt an? Mitten in der Nacht? Auf einem Funktelefon, das Schwartz noch nicht mal sechs Stunden besaß? Er nahm es aus der Tasche, etwas ratlos, und überlegte.
Düdeldüdeldü, meckerte das Funktelefon, und die Anzeige drängte »Anruf, Anruf« – ja doch, verdammt! Schwartz musste nur noch kurz herausbekommen, wie man bei dem Ding abnahm. Die Petkovic hatte zuerst die Antenne herausgezogen. Dann nahm man wohl mit der Taste mit dem grünen Hörer ein Gespräch an. Oder?
»Petkovic, es gibt Probleme mit dem Hurenbus«, knarzte es aus dem Funktelefon. »Kaemper hat einen Notruf abgesetzt. Offenbar hat es einen Anschlag gegeben. Hören Sie mich?«
Schlagartig war Schwartz hellwach. »Wo?«, fragte er knapp und versuchte, seiner Stimme ein rauchiges, petkovicähnliches Timbre zu geben.
»Zittauer Altstadt, Johannisplatz«, kam es aus dem Funktelefon, »kann sich Ihr Mann vor Ort darum kümmern?«
»Klar«, antwortete Schwartz, »bin schon unterwegs.« Dann drückte er die rote Taste und schob die Antenne des Telefons wieder zusammen.
Na, jetzt geht’s ja los, dachte er, Anschlag auf Hurenbus am Johannisplatz. Das hörte sich spannend an. Denn offenkundig kam Liliana Petkovic gerade der zweite V-Mann abhanden. – Sollte er sie wecken?
Nein, entschied er, denn schließlich war er vom Funktelefon aus dem Schlaf gerissen worden und nicht sie. Außerdem sollte sich »der Mann vor Ort« darum kümmern. Also er.
Hastig zog Schwartz sich an, steckte das Funktelefon ein und schlich leise die Treppe hinunter.
Wenig später saß er in seiner Déesse. Normalerweise brauchte man nur knapp zwanzig Minuten bis in die Zittauer Altstadt, aber es war sehr neblig und die Straßen feucht und glitschig vom Herbstlaub. In solchen Nächten kamen die Flüchtlinge über die Grenze. Manchmal waren ganze Gruppen von ihnen auf der Bundesstraße unterwegs. Konzentriert sah Schwartz durch die Windschutzscheibe. Die Sicht war gleich null. Vorsichtig fahren, dachte er. Das fehlte noch, dass er im Nebel einen illegalen Einwanderer über den Haufen fuhr.
Plötzlich stotterte der Motor und ging aus. Schwartz fluchte innerlich und klopfte hektisch gegen die Tankfüllstandsanzeige. Aber der Zeiger rührte sich nicht. Seine Göttin hatte kein Benzin mehr.
Er ließ den Wagen am Straßenrand ausrollen und schaltete die Warnblinkanlage an. Dann holte er aus dem Kofferraum einen Fünf-Liter-Reservekanister, aber auch der war leer.
»Herrgott noch mal!« Schwartz schlug wütend die Kofferklappe zu und den Kragen
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