Grenzwärts
Naziliteratur wiederverwertbar war?
Niemals, entschied sie sich und warf alles in die Restmülltonne. Verbrennen das Zeug, hat eh keinen grünen Punkt.
Mit dem letzten, dem heiklen Waffensack auf dem klapprigen Handwagen lief sie die Chopinstraße hinunter und kam sich vor wie ein Kriegsflüchtling. Nur, dass die vor achtundvierzig Jahren in die umgekehrte Richtung nach Westen marschiert waren. Auf der Flucht vor den Russen.
Nichts gelernt aus der Geschichte, dachte Julia, denn noch immer gab es Idioten, die gerne Krieg spielten. Aber nicht mehr lange. Kudella zumindest würde ab sofort ohne seine Waffen auskommen müssen. Und die tschechische Armeepistole würde sie ihm auch noch abnehmen.
Kurz vor dem hell erleuchteten, aber um diese Zeit kaum befahrenen Grenzübergang nach Polen bog sie rechts zur Neumühle ab. Eine schmale Straße, die zu einem ungenutzten Gewerbegebiet führte. Laternen verbreiteten trübes Neonlicht, die großen Hallen standen leer und verfielen allmählich. Dahinter führte ein mit groben Betonplatten befestigter Weg direkt an der Neiße entlang. Auf einer Art Deich, mit steiler Böschung zum Wasser hinab. Vermutlich war das der Postenweg, den auch die Grenzer benutzten.
Unruhig sah sich Julia um. Der Handwagen machte einen höllischen Lärm und klapperte bei jeder Bodenwelle. Je schneller sie ihn los war, desto besser, denn Julia wollte nicht riskieren, mit Kudellas Waffenarsenal einer Streife zu begegnen.
Also los! Sie suchte eine Stelle, an der die Böschung weniger bewachsen war, sodass sie den Wagen mit dem Müllsack einfach in den Fluss rollen lassen konnte. Das wenigstens war der Plan. Er berücksichtigte nicht, dass der Deich am Fuße mit groben Betonklötzen gegen Unterspülungen befestigt war. Betonklötzen und Feldsteinen, in denen der Karren krachend hängen blieb, noch bevor er im Wasser versinken konnte.
Mist, dachte Julia, so ein verdammter Mist! Nervös trieselte sie ihre Haarsträhne.
Der Handwagen mit dem Müllsack lag schief im Wasser, ohne dass etwas passierte.
Julia sah sich um. Noch schien sie niemand bemerkt zu haben. Nirgendwo rührte sich etwas, und außer dem Plätschern des Flusses war nichts zu hören. Er war hier höchstens zwanzig Meter breit, hatte aber eine starke Strömung, und, so schien es wenigstens Julia, der Pegel schien etwas höher als normal zu liegen. Was vermutlich an den Regenfällen der letzten Tage lag. Vor allem wenn die Wolken im Gebirge weiter südlich hängen blieben und dort abregneten. Dann konnte aus der normalerweise kaum als Fluss zu bezeichnenden Neiße schnell ein reißender Strom werden. Schon mehrmals hatte es in Zittau und Görlitz verheerende Hochwasser gegeben, da nutzten auch die kleinen Deiche nichts.
Wenn wenigstens der Müllsack weg wäre. Aber er lag fest im Karren und konnte da unmöglich bleiben. Doch um ihn da rauszuholen und endgültig den Fluten zu überantworten, musste Julia ins Wasser waten. Und sie hasste das Wasser. Sie konnte nicht schwimmen, weil sie es wegen ihrer Chlorallergie nie richtig gelernt hatte. Wasser machte ihr Angst. Am liebsten wäre sie einfach weggelaufen.
Und dann? Was, wenn jemand die Waffen fand? Um damit irgendeinen Blödsinn zu machen? Um sie einzusetzen ?
Nein. Julia schüttelte unwillkürlich den Kopf. Sie konnte jetzt nicht einfach kneifen. Das bisschen Wasser, sie würde sich höchstens nasse Schuhe holen. Der Sack musste verschwinden, deshalb war sie hier.
Julia biss sich auf die Lippen und kletterte langsam die Böschung hinunter. Im schwachen Licht, das vom Gewerbegebiet herüberdrang, glitzerten die Fluten. Schnell strömend flossen und gurgelten sie um die Befestigungssteine herum, an denen der Karren hing. Vorsichtig setzte Julia einen Fuß ins Wasser, schloss genervt die Augen.
Was tat sie hier? Was hatte sie überhaupt hierhergetrieben? War das Verantwortung oder doch eher Idiotie?
Sich innerlich verfluchend und mühsam über die Betonsteine balancierend tappte sie weiter. Wasser drang ihr durch die Schuhe, zerrte an den Beinen und durchnässte die Jeans bis zu den Oberschenkeln. Dann hatte sie den Karren erreicht. Beherzt griff sie nach dem Müllsack. Doch als sie ihn herausziehen wollte, trieb der Karren durch die veränderte Gewichtslage auf und begann, sich zu drehen. Julia schwankte, verlor das Gleichgewicht und stürzte, noch immer den Müllsack in beiden Händen, rücklings in die Fluten.
Ah, war das kalt! Die Strömung riss an ihr, und Julia schluckte
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