Gretchen
über und schulterte die silberne Clutch Bag von Fendi.
Es sah fürchterlich aus.
Als ihre Blicke sich kurz streiften, töteten sie einander, sicherheitshalber, man konnte ja nie wissen. Gretchen Morgenthau schaute der Feuilletonistin hinterher, wie sie zum Ausgang strebte. Sie hatte den Gang einer Ballerina, einer sehr alten, gewiss, aber sie besaß diese ungeheure Körperspannung und beherrschte dieses tänzelnde Schweben auf glattem Parkett.
Neid keimte. Diesen Gang konnte man nicht imitieren. Entweder man hatte ihn oder eben nicht. Gretchen Morgenthau war von klein auf vom Tanz fasziniert, gleichwohl sie selbst verschont blieb von allzu großem Talent. Sie mochte das neoklassische Ballett eines George Balanchine genauso wie das experimentelle Tanztheater eines Merce Cunningham. Wenn sie Schönheit und Anmut suchte, dann ging sie nicht zu Macbeth oder Tartuffe und schon gar nicht ins Museum, dann schaute sie zu, wie Sylvie Guillem tanzte, und dann vergaß sie einen Augenblick lang all die Befehle des Lebens, dann vergaß sie auch die Musik, die gespielt wurde, da alles ineinander überging und nur noch Körper war und nur noch nichts.
»Auch so eine Person«, sagte Fine und blickte dabei in ihre Melange, »die in ihrem Leben nur ein Motto kennt: Die Sieger sind immer ich. Warum fehlt mir dieses Gen?«
»Schicksal«, sagte Gretchen Morgenthau, »ist etwas aus der Fabrik. Wenn man es umtauschen möchte, findet man den Kassenbon nicht mehr. Traurig sein hilft da nicht, meine Liebe.«
»Machst du dir eigentlich Sorgen wegen der Verhandlung?«
»Bitte? Weshalb sollte ich? Joseph ist doch der Richter, und dein Ex-Schwiegersohn wird doch wohl keinen Unfug machen.«
»Mmh.«
8
Kyell hatte all die blutigen Zeugnisse des Gemetzels hinfortgewischt, die Tür hinter sich zugezogen und die Einkäufe erledigt. Im Internationalen Kolonialwarenladen wurden selbst die kühnsten Wünsche befriedigt, das Sortiment war ein Wunder der Vielfalt. Auch Gewürze aus exotischen Ländern zauberte Hagwar aus einer entlegenen Ecke in einer geheimen Schublade hervor. Nichts war ihm fremd, noch gab es etwas, das es nicht gab oder er nicht hätte besorgen können. Kyell hatte seine Einkäufe in einem Stoffbeutel verstaut, den Ingwer, die getrockneten Chilis, die Miesmuscheln und auch ein Schälchen Pfirsiche, ein Spontankauf, ein Experiment. Er nahm einen kleinen Umweg nach Hause, Richtung Osten, durch Kristians wilde Gärten, an der Dorfkirche vorbei über den Golem-Hügel, bis er die Möwen schon kreischen hörte. Als er seinen Lieblingsplatz auf einer kleinen Anhöhe zwischen Wolfsmilchgewächs und Drachenbaum erreichte, legte er seinen Einkaufsbeutel ab und atmete tief durch. Die Blätter krauschelten im Wind, es roch nach Veilchen und Holunder, der Ginster strahlte sonnengelb und eine kühle Brise kitzelte die Nackenhaare hoch. Er schaute aufs Meer. In die große weite Welt. In die er bald gehen musste. Die ihm nicht geheuer war und die ihn nie, selbst in trüben Stunden nicht, fernwehend heimsuchte. Jeder musste Gwynfaer für eine Weile verlassen, um eine Ausbildung oder ein Studium zu absolvieren, um das Leben in der rauen betonierten Wildnis zu lernen, um die große Liebe zu finden oder einfach nur den lieben Gott. Frühestens nach drei Jahren durften die Auswanderer wieder zurückkehren. Ein ungeschriebenes Gesetz, an das sich jeder hielt. Es gab keine Ausnahme. Die Heimkehrer erzählten, dass es gut war, eine Zeit lang weg gewesen zu sein, dass es neben Bunt auch Schwarz und Weiß gab und neben Schwarz und Weiß auch Kunterbunt. Und sie erzählten von unsichtbaren Menschen, die in Städten ertranken, von Automobilen, die voll der Sehnsucht waren, und Kindern, die anderen Kindern die Kehle durchschnitten. Und sie erzählten von Bauten, die staunende Ehrfurcht hinterließen, von Konzerten, die für immer in ihnen wohnten und von Kaugummis, die auf nassen Straßen klebten. Wenn sie wiederkamen, dann sahen ihre Augen leerer aus und zugleich reicher, und jeder brachte etwas mit zurück, etwas, das Wissen hieß, etwas, das Gwynfaer am Leben hielt. Nichts war lächerlich, selbst das Unbrauchbare nicht, denn nichts war wertvoller, als das Staunen zu bewahren. Und so wurden die Heimkehrer immer mit einem großen Fest willkommen geheißen, und dann wurde getrunken und diskutiert und getanzt und geprügelt, bis der Sonnenaufgang auch den letzten Erbrochenen scheuchte. Vor zwei Wochen erst war Jonas zurückgekehrt, der vier Jahre in
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