Gretchen
es an der Tür und ein gut aufgelegter Delinquent schwebte federnden Schrittes hinein.
»Der junge Stein, wie schön, dass du es einrichten konntest. Wie geht es denn?«
»Hachail gichru Ashantius pla.«
»Bitte?«
»Gromolo! Ich habe Ihnen gesagt, wie ich mich fühle. Fundamental.«
»Fundamental?«
»Ja, fundamental, absolut.«
»Schön zu hören. Nimm Platz. Tee?«
»Gerne.«
Gretchen Morgenthau gab die fürsorgliche Gastgeberin und schüttete den dampfenden Minztee in eine bauchige, weiße Keramiktasse. Ohne zu fragen gab sie zwei Teelöffel braunen Zucker hinzu. Dann setzte sie sich an das andere Ende des schweren Holztischs, schaute Tule lange in die Augen und fragte: »Wie laufen denn die Proben?«
Tule nippte an dem Tee, der noch viel zu heiß war, und schaute Gretchen Morgenthau ebenso lang in die Augen. »Ehrlich gesagt auch fundamental. Die erste Probe am Tisch, die schon weit mehr als eine Lesung war, verlief noch ziemlich holprig. Und auch die ersten Proben mit szenischen Arrangements waren durchaus durchwachsen. Einige hatten Probleme, den richtigen Ton für ihre Rolle zu finden, andere kamen mit den Gängen nicht zurecht und stolperten ungelenk umher. Das Übliche, Sie wissen schon. Aber sie geben sich Mühe und sie sind willig, und das ist es doch, was zählt.«
»Ah.«
»Mit einer Ausnahme. Leider. Sie müssen wissen, dass ich mich für einen sozial-integrativen Stil meiner Regiearbeit entschieden habe, ich arbeite sowohl konzeptionell als auch situativ und sehe mich gleichzeitig in der Tradition von Genet, als zum Tode verurteilten Ärgermacher. Und damit kommt nicht jeder klar. Und dann kann es krachen, wenn jemand alle Satzzeichen mitspricht, Betonungen verhunzt, keine Melodie für seine Rolle findet und sich zu alledem als beratungsresistent erweist. Es ging zum Schluss nicht anders. So ein Unruhestifter ist nicht gut fürs Team. Ich musste Robespierre alias Monsieur Ballon alias Lehrer Magnus rausschmeißen. Denn es gab noch andere Vergehen. Unverzeihliche.«
»Welche?«
»Er hat ein Brötchen gegessen.«
»Er hat ein Brötchen gegessen?«
»Auf der Bühne! Nun ja, nicht er direkt, sondern Milla, aber er hat es gesehen und nichts gesagt. Und dann hat er noch aus meiner Wasserflasche getrunken, die ich selbstverständlich beschriftet habe. Es stand mit schwarzem Filzstift groß und deutlich für jedermann sichtbar Regisseur drauf. Außerdem hat er seinen Monolog immer direkt an der Rampe gesprochen. Fürchterlich. Und wirklich gut war er eigentlich nur, als wir Ablauf und Länge der Applausordnung geprobt haben. Unmöglich mit solchen Leuten zu arbeiten. Das verstehen Sie doch, oder?«
»Natürlich. Und die Proben zu Peer Gynt laufen wie genau?«
Etwas stimmte nicht. Der Tonfall. Er war zu bemüht freundlich. Und in ihren Augen konnte Tule deutlich erkennen, dass sie alles wusste. Er fragte sich, wer der Verräter war.
»Es sollte eine Überraschung werden.«
»Eine Überraschung? Ach nein.«
»Doch, doch. Ich habe mich spontan umentschieden. Ich hoffe, Sie sind deshalb nicht verstimmt. Aber es hat einfach nicht funktioniert. Es lag meiner Ansicht nach an der fehlenden Infrastruktur, Sie wissen schon, Drehbühne und so. Und die örtlichen Schauspieler haben einfach nicht das Niveau für die klassische Hochkultur, dieser herkulischen Aufgabe ist nur die Crème de la Crème gewachsen und nicht der Pudding. Aber: Sie lieben die Herausforderung. Genau wie ich. Und deshalb haben wir etwas gewagt, uns sozusagen aus der Höhle gewagt, in die Freiheit hinaus. Anfangs noch unsicher auf den Beinen. Klar. Dann aber haben wir uns mit Verve und hitziger Vorfreude für ein modernes Theater entschieden. Und raten Sie mal, für wen wir uns entschieden haben? Könnte eine kleine Überraschung sein. Kommen Sie vielleicht nicht sofort drauf. Ach was soll’s, ich sage es frei heraus, unser neuer allseits verehrter Prophet heißt: Attila Cocteau.«
Gretchen Morgenthau war irritiert. Sie kannte Attila Hörbiger oder Jean Cocteau. Aber Attila Cocteau? Nie gehört. Und so fragte sie: »Attila Cocteau?«
»Ja, sie wissen schon, der berühmte norwegische Avantgarde-Regisseur und Schriftsteller mit den französischen Wurzeln mütterlicherseits, der unter seinem etwas albernen Künstlernamen Huibuh Shlomo Mendelssohn die Orestie völlig neu und revolutionär inszeniert hat. In Bergen 1987. Als Zwanzigjähriger! Das ging doch um die Welt. Er hat dabei Strukturen von Zeami Motokiyos Nō-Theater mit ins
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