Gretchen
Spiel gebracht, jedoch sehr kontrovers interpretiert. Damals noch in Koproduktion mit dem Schweizer Kombinat Bohnensuppe.«
»Kombinat Bohnensuppe?«
»Ja«, sagte Tule und rollte mit den Augen, als sei er ein klitzekleinwenig entsetzt über so viel Unwissenheit. »Das Gemeinschaftsprojekt von Personalcomputer Klingeling und Pechmarie Schmitz. Sie wissen schon, die mit den verrückten Haaren und den noch verrückteren Ideen. Sie müssen doch Der Tod des Büllerbü Müller in einem Wald voller Fichten oder Prokrastinator III kennen. Ich sage nur: Mayonnaise!«
Gretchen Morgenthau sah Tule an, als sei er ein Insekt. Auf einem Küchenboden. Krabbelnd. Mit hässlichen Beinen. Sie hatte genug gehört und starrte den zum Tode geweihten Weberknecht nieder.
»Aber, und das ist das Großartige«, ließ Tule nicht locker, »er hat auch ein Volksstück geschrieben, schnelle Dialoge, viel Humor, subversiv, so wie es der kulturell interessierte Mensch gerne mag, und da ich infolge einer Erbschwäche zu Kompromissen neige und da ich weiß, was wir unserem Publikum zumuten können und was nicht, dachte ich, grandios, das machen wir. Das Stück heißt Leben Saft Tomate. Der Meister soll es vor zwei Jahren geschrieben haben, in einer einzigen Nacht, im Rausch, und verwirrt soll er gewesen sein, dass eine humoristische Begabung in ihm wohnt, so candidemäßig, von der er zuvor nie etwas geahnt hatte, die ihn ängstigte, wie er später einmal gestand. Ich würde sagen, es ähnelt ein wenig Beckett, ohne die beiden miteinander vergleichen zu wollen, ich glaube, Beckett war nicht ganz so intellektuell. Das Stück hat eine ganz besondere Aura. Die Begeisterung haben wir alle sofort gespürt, da war plötzlich so ein Gefühl von Aufbruch da. Und die ersten Proben waren so vielversprechend, da sind wir am Ball geblieben, das ganze Team, bedingungslos, eine eingeschworene Truppe, kann ich nur sagen. Und wir sind auf einem guten Weg, auch wenn es hier und da noch kräftig ruckelt. Ein Bühnenbild gibt es übrigens nicht, es ist die Bühne selbst, die da ist, ganz nackt, Realität durch Reduktion. Und ohne Video. Nur das Wort soll uns verführen. Es ist noch kein Meilenstein, sicher, aber es ist ein Anfang, wir sind Pioniere, und wir werden Geschichte schreiben. Ist das nicht supi?«
»Großartig. Morgen werden die Proben zu Peer Gynt wieder aufgenommen.«
»Aber …«
»Es gibt keine Diskussion.«
»Vielleicht habe ich mich ja geirrt, und Sie sind doch nicht Johnny Cash.«
Gretchen Morgenthau schaute Tule fragend an.
»Jemand, der im späten Alter ein weit größerer Künstler ist als in jungen Jahren. Mein Fehler. Vielleicht werde ich ja eines Tages mal für eine Visionärin arbeiten können, für eine LeCompte zum Beispiel, aber, um noch einmal …«
»Ich denke, wir haben dann alles besprochen.«
»Ich hätte da mal eine Gretchenfrage«, versuchte Tule es mit einer finalen Finte. Er musste kämpfen, sollte all die Arbeit nicht umsonst gewesen sein, und so setzte er alles auf seine letzte Karte. Er hatte gehört, dass diese Karte bei Österreichern und Deutschen immer stach, und wenn nicht jetzt, so dachte er, wann wollte er sonst seinen Trumpf ausspielen? Er räusperte sich, legte eine ausgewogen sorgenvolle Miene an den Tag und fragte: »Waren Sie eigentlich auch Nazi? Zeitlich würde es ja passen.«
Gretchen Morgenthau stutzte. Wie mutig, dachte sie. Sie hatte es mit knorrigen Staatsschauspielern und theatralen Edelfedern aufgenommen, sich mit platzhirschenden Tyrannen und tumben Hausmeistern geschlagen, aber noch niemand war auf die Idee gekommen, ihr diese Frage zu stellen. Ihr ging die fehlende Scheu und der charakterliche Mangel an Unterwürfigkeit der Dorfbewohner eindeutig zu weit. Und was genau bezweckte der Junge damit? Dass sie die Fassung verlor? Dass sie von damals erzählen würde? Das tat sie nie. Sie war noch ein Kind. Damals.
Und sie hatte gesehen, wozu Menschen in der Lage sind, bei der »Besichtigung«, als sie versuchte, die Kieselsteine zu zählen, weil sie nur auf den Boden blicken konnte. Seit jenem Tag glaubte sie an gar nichts mehr. Und nie sprach sie darüber, nicht privat und auch nicht durch die Kunst, sie wollte keine Gefühle verkaufen, nicht daran verdienen, nicht dabei sein. Und so grinste sie ohne zu lächeln Tule an und sagte: »Es war die Zeit meines Lebens.«
»Ah. Worauf ich eigentlich hinaus will, was ich sagen möchte, ist, Sie haben mir eine Chance gegeben, und ich habe etwas daraus
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