Gretchen
schwebte sie von einer Seifenblase geschützt durch die Welt. Auch diese merkwürdigen Bauchschmerzen schienen wie ausgesperrt und auf den Pausenhof geschickt. Sie hatte das Gefühl, irgendjemanden umarmen zu müssen, was selbstverständlich krank war.
»Tuva war auch hier«, sagte der nette, junge Mann. »Ich soll Ihnen gute Besserung wünschen. Sie hat Apfelkuchen mitgebracht. Sie war in Eile. Sie hat sich extra von den Proben losgeeist.«
»Proben?« Gretchen Morgenthau dachte nach. »Welche Proben?«
»Ihre Inszenierung. Das Theater.«
»Ach ja.«
»Und der Bürgermeister war auch da. Er sah blass aus. Er hat gesagt, dass er ständig brechen muss. Vor Aufregung. Presse aus London, New York, Paris und Hamburg hat sich angekündigt. Für die Premiere. Ich verstehe nur nicht, warum er deshalb ständig brechen muss.«
Internationale Presse? Der Wecker klingelte. So, wie er nur klingelt, wenn es zehn vor sieben ist und die einzige jemals wichtige Eisenbahn in einem Leben voll Grimm und Gram um genau sieben Uhr eins abfährt. Wieso interessierte sich die internationale Presse auf einmal für ihre Arbeit im Straflager? Wer hatte es an die große Glocke gehängt und warum? Das war nicht gut. Zumal sie dem örtlichen Dorftrottel die Regie übertragen hatte. Unter ihrem Namen. Sie wurde sehr, sehr wach. Kein Nebel mehr und auch keine Seifenblase. Wenn die Reputation auf dem Spiel stand, dann musste ein klarer Kopf her. Sie durfte nicht leichtsinnig werden, so kurz vor der Zielgeraden. »Das ist kein Witz?«
»Nein.«
»Du würdest mich doch nicht belügen? Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist, dass ich dir das Leben gerettet habe.« Sie wussten beide, dass das so nicht unbedingt stimmte, Spaß war der Antrieb gewesen und Kyells Lebensrettung im Grunde nur ein Kollateralschaden.
»Wie laufen denn die Proben zu Peer Gynt?«
Kyell wusste nicht, wie und was er darauf antworten sollte. Es war kompliziert. Eine Zwickmühle. Und er wollte kein Verräter sein. Andererseits hatte sich Tule in letzter Zeit unmöglich benommen, nicht nur ihm gegenüber. Warum also lügen.
»Nun ja, er probt jetzt etwas anderes.«
Gretchen Morgenthau hatte sich verhört. Sie hatte etwas anderes verstanden.
»Bitte?«
»Er probt etwas anderes.«
»Etwas anderes? Was?«
»Weiß ich nicht.«
»Was?!«
»Weiß ich nicht.«
»Bring ihn her. Sofort.«
»Und übrigens«, sagte Kyell im Hinausgehen, »Sie sind nackt ums Lagerfeuer getanzt.«
Gretchen Morgenthau schockfrostete.
Das konnte nicht sein.
Unmöglich.
Und im letzten Moment, kurz bevor er die Tür zumachte, sah sie für einen flüchtigen Augenblick die Lüge in seinen Augen und die unverschämte Freude darüber, eine hilflose, gutmütige, alte Frau durch eine Eisfläche brechen und jämmerlich erfrieren zu sehen. Er war so gut wie tot. Aus Prinzip.
Sie ging ins Bad, machte sich frisch, putzte ausgiebig ihre Zähne und schminkte Augen und Mund eine Spur zu extravagant. Sie zog ein schlichtes, rotes Kleid von Hervé Léger über und graue Sandalen von Balenciaga an. In der Küche war es warm, fast zu warm. Sie trank nahezu einen Liter Wasser, speiste eine halbe Banane und summte Que Sera, Sera von Doris Day vor sich hin, was absolut krank war. Das Gebräu des Medizinmannes wirkte noch immer, sie fühlte sich gut, Teufelszeug, zweifelsohne, sie wollte mehr davon, auch als Vorrat, für schlechte Zeiten. Sie schüttete eine Kanne mit frischem Minztee auf, öffnete das Fenster zur Meerseite und hörte den Blättern beim Blättern zu. Sie war immer noch schockiert, dass der hiesige Dorftrottel eigenmächtig Entscheidungen von solcher Tragweite fällte. So etwas hatte noch nie jemand gewagt. Reinster Wahnsinn. Selbstmord. Das antihierarchische Kollektiv in der Kunst war ihr immer fremd, und diese merkwürdigen Tendenzen zur Mitbestimmung im Theater, die seit den Siebzigern gerne mal aufflackerten, verachtete sie aufs Äußerste. Sie war die Regisseurin und somit per definitionem Gott. Das bedeutete selbstverständlich nicht, dass sie ihre Entscheidungen autonom im trüben Kämmerchen fällte. Nein, sie war weder naiv, noch unprofessionell, sie war sogar eine vehemente Verfechterin fruchtbarer Diskussionen und hitziger Dispute, letzten Endes aber entschied sie, und wem das nicht passte, der konnte sich ein Kreuz nehmen und hinten anstellen. Der Junge würde für seine Unverfrorenheit bezahlen, so viel stand fest. Und gerade, als sie über das genaue Strafmaß sinnierte, klopfte
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