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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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Natürlichste von der Welt, wurde sie zur Märtyrerin, ja, zum Werkzeug Gottes, das die Worte sprach: »Ich möchte Sie bitten, nichts dergleichen zu tun, da ich mich sonst genötigt fühlen würde, Ihren Hodensack abzuschneiden und in Ihren Mund zu stecken. Da bekommt das Wort Schlucken doch eine völlig neue Bedeutung, nicht wahr?«
    Sie hörte eine Stecknadel fallen.
    Klickklack machte die Uhr.
    Am anderen Ende der Welt wurde gerade ein junger Mann von einem Auto überfahren.
    Schnee fiel im Himalaya.
    Und das Inferno brach aus. Gewaltig, roh und animalisch, von dionysischer Intensität, die alles hinwegfegt, die Zweifel, die Scheu und das Nichts. Schallendes schottisches Gelächter. So also klang es, wenn alle Dämme brachen und alles und jeder mitgerissen wurde.
    Als sie die Augen wieder öffnete, hatte Schottland seinen mächtigen Arm um ihre Schulter gelegt und grinste linkisch.
    »Schon viel von dir gehört«, sagte der Rüpel, »wie wäre es mit einem kleinen Hochprozentigen? Selbst gebrannt. Zieht dir die Socken aus.«
    Oh, dachte Gretchen Morgenthau, warum nicht, vergewaltigen konnte sie auch später noch.

25
    Als Gretchen Morgenthau aufwachte, fühlte sie sich wie neugestorben. Sie konnte sich erinnern. An ihren Namen. An mehr nicht. Die Inhalte waren gelöscht. Ein leerer Raum, kein Stuhl, kein Tisch, kein Bild, kein Nichts, nur Beton, grau, rau, kalt. Die Augen geschlossen. Schwer, so schwer die Lider. In Tagen voller Dunkelheit ist der Blinde König, dachte sie. Aha, sie konnte denken. Fähigkeit. Immerhin. Eine Fliege summte an ihrem Ohr vorbei, zu laut für diese Welt. Ihr Kopf brummte wie ein Kieslaster querfeldein. Auch ihr Magen rotierte. So ungeheuerlich. So böse. So verdorben. Die Erinnerung folgte auf wackligen Beinen. In Bruchstücken. Unzusammenhängend. In wirrer Manie. Sie war zuvor schon einmal wach gewesen, für kurze Zeit. Irgendjemand hatte ihr zu Trinken gegeben. Durst, sie hatte Durst, schrecklichen Durst.
    Im Hintergrund kratzte eine Nadel schwermütige Töne in die Welt, auf einer Schallplatte, die sich immerzu im Kreis drehte, wie ein dummer Hamster. Es lief Verdis Requiem. Sie mochte den alten Romantiker noch nie. Sie öffnete die Augen. Und es war Nebel. Schwaden schlierten und suppten unscharf hin und her. Schemenhaft nahm sie eine Gestalt wahr, die links an ihrem Bett saß. Als sie ihre Sehstärke fast vollständig wiedererlangte, erschrak sie. Sie war nicht im wohlverdienten Himmel, sie war noch immer in der Hölle. Und es wachte auch kein Raphael an ihrem Bett, es waren nicht einmal Flügel vorhanden, es war nur Kyell, ihr persönlicher Assistent, und der war, zu allem Unglück, keineswegs ein Alptraum, er war real, und er starrte Ihre Heiligkeit an, als sei sie Lazarus höchstselbst.
    »Was …«, wollte sie fragen, aber ihr Mund war so furchtbar trocken, sie schluckte, »… was ist passiert?«
    Kyell reichte ihr ein Glas mit einer trüben Flüssigkeit. »Tykwers Medizin«, sagte er. »Danach geht es Ihnen besser. Sie soll Wunder wirken.«
    Sie trank das bittere Gebräu in einem Zug leer.
    Eine Windböe huschte über die Veranda, Fensterläden klapperten und Bäume raschelten ihr loses Blattwerk hinfort, auf dass es welke und dünge.
    »Mein Gott«, sagte Gretchen mehr zu sich selbst, »so habe ich mich das letzte Mal vor zwanzig Jahren gefühlt, als ich die Matrosen in Rotterdam unter den Tisch getrunken habe. Aber damals waren es drei Flaschen schottischen Whiskys.«
    »Diesmal war es mehr. Und es war selbst gebrannt.«
    Die Erinnerung, die Schotten, die Dunkelheit. »Gestern …«
    »Es war nicht gestern. Es war vor drei Tagen.«
    Drei Tage? Drei Tage im Delirium? Unmöglich. Ihr Ruhm ruhte zu gleichen Teilen auf ihrer Begabung zu inszenieren und auf ihrer Meisterschaft zu konsumieren. Alkohol. In rauesten Mengen. Fernfahrermäßig. Da durfte sie keine Schwäche zeigen, das sprach sich sofort rum, da war man weg vom Fenster, schneller als man Speisekartoffeln sagen konnte. Sie setzte sich ein wenig aufrechter hin und schob eines der dicken Daunenkissen hinter ihren Rücken. Sie wusste nicht, welche Medizin der Quacksalber da zusammengebraut hatte, bestimmt irgendwas mit Voodoo, mit Krähenfüßen und Krötengallen, mit Alraunenkraut und Nacktschneckensud. Von einem Pferdedoktor erwartete sie auch nichts anderes, sie wäre enttäuscht gewesen, von einer gewöhnlichen Aspirin. Und dann spürte sie die Wirkung, und sie war angenehm, die Wirkung, sehr angenehm. Es war, als

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