Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
Mund ist so trocken, sie glaubt, sie müsse ersticken und ist vollauf beschäftigt, sich gerade zu halten und Luft zu bekommen. Der kostümierte Obristrichter und die Einspänniger sitzen längst auf ihren unruhig schnaubenden Pferden, das Gejohle jenseits der Pforte wird lauter, und einmal hört die Susann durch den ganzen Lärm sehr klar den Grenadierleutnant zum Obristrichter sagen: «Vorne schlagen sie jetzt den Weg frei.»
Und dann geht es doch los, durch die Pforte, hinein in die Menge. Sobald sie da draußen ist, verspürte sie ein heißes, zerreißendes Gefühl in der Brust wie noch niemals im Leben. Sie glaubt, jetzt tot zusammenzubrechen ganz von selbst, einen Augenblick ist sie weggetreten, und dann ist die Anwandlung plötzlich vorüber. Sie sieht wieder klar, ist immer noch aufrecht, spürt ihre eigenen Schritte, bemerkt, dass die Pfarrer, Gott sei Dank, noch neben ihr hergehen, singend, betend. Der Stöcker ist hinter ihr, sie spürt, wie sich ab und zu der Strick strafft. Und dann geschieht etwas Seltsames – dass sie nämlich aus dem Gebrüll um sie herum, als entwirrte sie Fäden, einzelne Stimmen heraushört, einzelne, kristallklare Wörter. Der dort vorn zum Beispiel, mit dem roten Hemd und der schwarzen Hose, der ruft: «Lasst sie frei, ihr Hurensöhne», und ein Stück weiter spuckt eine Frau in ihre Richtung, aber verfehlt sie. «Teufelin! Teufelin! Hexe!», brüllt es dabei aus ihrem zahnlosen Mund.
Die Pfarrer singen: «Befiehl du deine Wege». Die Susann zwingt sich einzustimmen, und plötzlich singt sie ganz klar und laut, mit einer Kraft, von der sie nicht wusste, dass sie sie noch hat. Das ist ihre Stimme, sie hört sie jetzt zum letzten Mal.
«Es geht nicht, ich ertrag das nicht», sagt Cornelie, plötzlich hysterisch. Wie konnte sie nur hierherkommen? Warum merkt sie erst jetzt, worauf sie sich da eingelassen hat? Der gruselige Zug ist gerade in ein paar Schritten Abstand an ihr vorübergegangen. (Georg hatte Münzen verteilt, dass man weiter nach vorne kam.) Diese unerträglichen archaischen Riten, dieser Obristrichter in Blutrot samt Zepter vornweg auf seinem Prachtpferd, die Todgeweihte am Strick wie ein Stück Vieh, und versucht noch tapfer zu singen, mit einem Ausdruck, da kann man gar nicht hingucken, und so blass, du lieber Gott.
«Cornelchen, ich bitt dich.» Das war Wolfgang. «Du musst doch gar nicht hinsehen, dreh dich in die andere Richtung, halt dir wegen mir auch die Ohren zu. Wir sind hier gute dreißig Schritt vom Schafott, genauso gut könnten wir zu Hause im Hirschgraben sein, da würden wir ebenso viel mitbekommen.»
«Wir können ja schon einmal gemächlich den Rückweg antreten», mischt sich Georg ein und greift schon nach Cornelies Arm, als könnte man hier einfach so fortwandeln, eingepfercht, wie man ist. Wolfgang denkt, er hört nicht recht. Und er müsste wohl noch mitkommen anstandshalber als Chaperon! (Als bestünde Gefahr, haha, dass Schlosser seiner armen, reizlosen, aufs Altjungferntum zusteuernden Schwester an die Ehre ging.)
«Noch nicht, warte», sagte Cornelie hastig, nachdem sie sich tatsächlich weggedreht hatte. «Ich probier’s. Wahrscheinlich geht es, wenn ich einfach in die andere Richtung sehe. Wenn sie am Schafott sind, sagt mir Bescheid, dann halt ich mir die Ohren zu.»
«Auf die Vorkehrung kannst du getrost verzichten. Man dürfte ohnehin nichts hören, beim Schwert», erklärte Georg. Und dann leiser, nur zu ihr: «Tapfer, Cornelia, für ein Mädchen muss so etwas freilich schwer zu ertragen sein.» Worauf er sich seinerseits wieder umdrehte und zusah, irgendwo zwischen den Köpfen eine Handbreit freie Sicht aufs Schafott zu erhaschen.
Jeden Schritt des Zuges nach vorn erkämpften Soldaten mit Prügelstöcken.
Und dann war man endlich durch, watete in dem Sand, der ums Schafott dick aufgeschippt war. Wozu der ganze Sand, denkt die Susann, irr beinahe, als wäre das wichtig, und hört wieder auf zu denken, weil der Scharfrichter vor ihr steht, der Ältere, nicht der Sohn, und sie bei der Hand nimmt und die Stufen hinaufführt auf das Holzgerüst.
Die vielen Gesichter, bis weit auf die Zeil hinaus. Das kann doch alles nicht Wirklichkeit sein. Nicht wirklich ihr passieren.
Dann sind auch die Pfarrer oben, der Pfarrer Willemer steht vor ihr. Sie hört ihn irgendwelche geistlichen Worte sagen, aber kann im Augenblick den Sinn nicht fassen, dann bittet er sie zu knien und den Kopf zu senken. Lieber Herr Jesus, nicht hinknien,
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