Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
sie es doch gewusst hat. Sie kann kaum stehen, so schlottert sie. Wie wenig man doch Herr seiner selbst ist! Eben noch hatte sie geglaubt, sie könne die Hinrichtung ruhig und gefasst erdulden; im nächsten Moment entgleitet ihr schon bei der bloßen Ankündigung alle Beherrschung. Und ehe sie sich auch nur ein bisschen wieder fangen kann, geht es schon weiter. Der Claudy tritt plötzlich zurück, der kostümierte Obristrichter aber vor sie, hält ihr einen roten Stab hin, zerbricht ihn und wirft ihn ihr vor die Füße mit den Worten: «Hiermit breche ich Euch, Brandin, den Stab und übergebe Euch dem Scharfrichter Hoffmann, dass er das Urteil auf vorgeschriebene Art vollziehen möge.»
Prompt tritt von hinterm Ofen einer der drei großen Männer ins Licht, und jetzt weiß sie, das ist der Scharfrichter.
Ehe sie sich’s versieht, steht er neben ihr und fasst sie an der Hand wie ein Liebender. Seine Hand ist warm, ihre eiskalt. Und der sehr sanfte Druck der warmen Hand hilft. «Ihr müsst Euch nicht fürchten», flüstert er, ganz dicht bei ihr, er hat einen Marburger Akzent. «Ich versicher Euch, es wird ganz glimpflich vorübergehen. Mein Sohn macht’s, der ist verlässlich, und das Schwert ist der schnellste und schmerzloseste Tod, den man haben kann. Ihr merkt nichts, gar nichts. Übrigens ist es auch noch nicht so weit. Wir Scharfrichter gehen jetzt erst noch einmal nach Hause.»
Tatsächlich verschwindet der Mann mitsamt seinen beiden Begleitern nun wieder, begleitet von einem Trupp Soldaten. Und der Pfarrer Willemer steht plötzlich seinerseits neben der Susann, legt ihr die Hand auf die Schulter. Gott sei Dank, die Pfarrer sind ja auch noch da.
«Kindchen, wir gehen jetzt zusammen in das Armesünderstübchen, Ihr wisst, der Warteraum unten gleich bei der Treppe. Hier oben wird es ja nun allmählich eng.»
In der Tat, denn in der guten Stube des Richters Weines drängten sich jetzt weit über zwanzig laute männliche Personen, nämlich ein Gutteil des Frankfurter strafvollziehenden Personals nebst Kutschern, Kindern (soweit männlich) und anderen niederen Dienstleistern. Alle wollten sie dabei sein an dem großen Tag. Es war gut, diesen Ort jetzt verlassen zu können.
Das Herz klopft der Susann noch immer sehr, aber das schlimme Zittern, das war fürs Erste wieder vorbei und die namenlose, schreiende Angst von eben, die auch.
AM SELBEN TAG, ACHT UHR MORGENS
DAS GEDRÄNGE und Geschubse war unglaublich an der Hauptwache. Der Paradeplatz nach Norden zu war sowieso nicht zu betreten für Zivilisten, da standen waffenstarrend Soldaten in Garnisonsstärke und warteten, ob ihr Eingreifen nötig würde. An der Ost- und Südseite der Hauptwache, der Bühne des kommenden Schauspiels, da wurde es dafür umso enger. Man hätte sich schon prügeln oder nachts um vier kommen müssen, um einen guten Platz zu ergattern ganz in der Nähe des Schafotts − Soldaten standen davor, um die Leute am Draufsteigen zu hindern − oder an dem mit Sand markierten Weg, über den die Delinquentin vom Katharinenturm aus geführt werden würde.
Solche Massen, solchen Andrang hatte Cornelie nur einmal vorher erlebt: bei der Kaiserkrönung anno ’64. Damals war der Anlass allerdings wesentlich fröhlicher gewesen. Und Frühling war es gewesen, ein sehr milder.
Nicht so heute. Mit wollener Unterwäsche und einer Wärmflasche unterm Mantel ausgestattet war sie gekommen; trotzdem kroch ihr schon nach einer Stunde hier draußen die Kälte die Beine hoch. Der Januar war klirrend kalt diesmal, und das nach einer neuerlichen fatalen Missernte im Herbst und bei einem demzufolge viel zu hohen Brotpreis das zweite Jahr in Folge. So dicht gepackt zwischen schlecht gekleideten, ausgemergelten, verfrorenen Gestalten, da spürt Cornelie, dass es heut tatsächlich einen Aufruhr geben könnte. Fast hört sie die leeren Mägen knurren, und sie fürchtet, dass der Hunger sich rächen wird heute, wo die Massen zusammenkommen, wo Obrigkeit und Volk sich versammelt gegenüberstehen. Da wird ja eine Verbrecherin schnell zur Märtyrerin und ihre Hinrichtung von einem Sinnbild der Gerechtigkeit zu einem der Ratswillkür. Vielleicht fing es sogar schon an, da hinten am Katharinenturm, den Cornelie von ihrem Standpunkt aus ganz gut sah und wo offenbar die Soldaten alle Mühe hatten, einige junge Burschen am Eindringen zu hindern.
«Was haben die vor?», fragte sie und reckte den Hals (gut, dass sie so groß war!). «Die Gefangene befreien?»
«Das
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