Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
Einspännigern, also den zivilen niederen Assistenten der Herren Bürgermeister, die eigentlich nicht ganz wenig verdienten, aber auch nicht so viel, dass sie sich bei ihren zahlreichen Kindern in dieser teuren Zeit immer Fleisch hätten leisten können. Die nutzten die Gelegenheit, sich einmal richtig damit vollzustopfen. Und solch guten Wein, den gab es schließlich auch nicht alle Tage.
Claudys Teller dagegen war gänzlich unberührt. Er bekam einfach nichts herunter. (Genau wie übrigens die Delinquentin, der er von jedem Gang der Henkersmahlzeit etwas ins Armesünderstübchen bringen ließ und die alles ausgeschlagen hatte. Nichts als ein Glas reines Wasser hatte sie erbeten. Und erhalten. Man war ja dankbar, etwas für sie tun zu können.)
Die restlichen Personen am Tisch, nämlich die Herren Pfarrer Zeitmann und Willemer (an deren Stelle jetzt die Predigerkandidaten der Delinquentin unten Gesellschaft leisteten) sowie der Herr Obristrichter, die hatten natürlich auch keinen großen Appetit gehabt auf Unmengen von deftigem Essen so früh an einem solchen Tag. Aber die hatten im Gegensatz zum Claudy ihre Nerven im Griff und zumindest ihren Teller Suppe verzehrt und je ein Portiönchen Wurst und Brot, um sich bei Kräften zu halten. Der Claudy schämte sich, dass er wieder einmal als Weichling dastand. Aber es ging einfach nicht, beim bloßen Gedanken an Essen im Mund krampfte sich ihm der Magen zusammen.
Er war sehr, sehr froh, als kurz vor neun die Tafel endlich aufgehoben und die Berge von übrig gebliebenem, erkaltetem Fleisch dem freudig wartenden Richter Weines und seinen Kollegen überlassen wurden.
Das würde ein Fest geben für die Herren Gefängnisaufseher heute auf dem Katharinenturm! Gutes Essen gratis, guter Wein gratis, Geselligkeit und Nervenkitzel durch die interessante Aussicht vom Turmfenster auf den Richtplatz. Mehr konnte man nicht wünschen. Davon würden sie alle noch ihren Enkeln erzählen.
NEUN UHR MORGENS
«HÖRT IHR! Die Sturmglocke!»
Georg − der unwillkürlich Cornelie am Rücken berührte bei dieser Mitteilung − hatte sich allerbestens vorbereitet, um den Geschwistern sozusagen den Führer spielen zu können durch die heutige Zeremonie.
Dreimal würde die Sturmglocke der Barfüßerkirche läuten, und dies war das erste Mal.
Für die Eingeweihten war es ein Zeichen, sich umzusehen, was Georg auch tat − um dann Cornelie etwas zuzuflüstern. «Was habt ihr für Geheimnisse?», fragte Wolfgang, und bekam die Botschaft seinerseits ins Ohr: Der Scharfrichter Hoffmann und zwei seiner Söhne würden soeben unauffällig und inkognito von einigen Soldaten durch die Menge gelotst, Richtung Schafott.
Nach der zweiten Warnung der Sturmglocke, eine Viertelstunde später, rückte ein Kommando von dreißig Grenadieren vor zum Katharinenturm.
Eine kleine Weile nach dem dritten Schlag der Sturmglocke erschien derjenige, der sie geläutet hatte, höchstpersönlich im Turm. Er trug die etwas altmodische Bezeichnung Stöcker oder Stockmeister. Und er hatte hier ein wichtiges Amt zu verrichten.
Nämlich das, wovor die Susann fast mehr Angst hatte als vor der Hinrichtung selbst.
Die Pfarrer zum Glück sind bei ihr, bleiben auch bei ihr, der Pfarrer Zeitmann und der Pfarrer Willemer, und beide führen sie behutsam, einer rechts, einer links, und reden sanft auf sie ein. Direkt an der Treppenschwelle, wo einem schon die eisige Winterkälte von draußen entgegenkommt, wartet der Stöcker. Die Susann zittert. Ihr ist schlecht. Sie hat so Angst. Herr Jesus, warum hat sie nur gerade davor so Angst. Vor dem Fesseln.
Der Stöcker tut schnell und ungerührt, was er tun muss: Er bindet der Delinquentin die Hände an den Handgelenken vor der Hüfte zusammen, sodass sie die Zitrone kaum noch halten kann. Dann wickelt er ihr den Strick fest um Arme und Oberkörper, einmal, zweimal, dreimal, viermal. Auf der Mitte des Rückens schließlich schlägt er einen Knoten. Und nun muss die Delinquentin am Strick vor ihm die steile Treppe hinuntersteigen.
Die Pfarrer kommen hinterher, reden beständig auf sie ein, bis sie unten ist und draußen, in der Kälte und einem Kreis aus Grenadieren; von jenseits der Katharinenpforte sind Pfiffe und Gejohle zu hören.
Man steht unterm Turm. Man steht eine endlose Minute, man steht zwei Minuten, dann drei, dann fünf. Die Pfarrer und die Kandidaten fangen an, der Susann vorzusingen, die die ganze Zeit vom Stöcker am Strick gehalten wird. Sie kann nicht singen, ihr
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