Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
Gebiet − dem Herrn Doktor Philipp Burggrave.
Der, obwohl nicht Stadtphysicus, galt als der beste Wissenschaftler unter Frankfurts Ärzten. Er trug ein kleines, altes Gesicht unter einer großen weißen Perücke und hatte eine gelehrte und sehr lateinische Abhandlung über Besonderheiten der Schwangerschaft bei Tier und Mensch verfasst. Vor Jahren hatte er außerdem in einem revolutionären Papier mit Reformvorschlägen zur Frankfurter Medizinalordnung die skandalöse Inkompetenz der hiesigen Hebammen moniert: Diese besaßen ja (befand Dr. Burggrave) meist nicht den geringsten Begriff von den wissenschaftlichen Grundlagen der Geburtshilfe, ja praktizierten aus bloßer Übung und Erfahrung! Da war natürlich dringend Anleitung und Aufsicht durch studierte Ärzte notwendig.
Statt an den Rat hatte der Dr. Burggrave damals das Reformpapier wohlweislich an niemand Geringeren als an den Kaiser in Wien geschickt. (Der Doktor kannte Majestät zwar nicht persönlich, hatte sich aber immer sehr bemüht, Ihr in seinen Publikationen lobend Erwähnung zu tun.) Aus Wien kam das Papier drei Jahre später wieder zurück mit der Bemerkung, dies scheine ganz brauchbar, nur sei der Kaiser nicht zuständig, und die Frankfurter Ärzte sollten mal eine Kommission bilden. Knapp zehn Jahre später hatte die Kommission ausdiskutiert (indem viele ihrer Mitglieder jetzt nicht mehr miteinander sprachen) und legte dem Rat einen Vorschlag vor. Vielmehr, eigentlich deren zwei, da nämlich der Dr. Burggrave und einige seiner ebenfalls nicht beamteten Kollegen fanden, dass − wenn schon, denn schon! − auch diverse Privilegien der Stadtphysici abgeschafft gehörten und sie deshalb ein Sondervotum nicht ohne Bösartigkeiten über die beamteten Kollegen einreichten. Kein Wunder, dass der Rat erst mal ratlos war und noch ein paar weitere Gutachten in Auftrag gab (nicht, dass man etwa vorschnell handelte!). Bei den Apothekern zum Beispiel, die es, stellte sich heraus, gar nicht angemessen fanden, dass die Ärzte ihnen das selbständige Verordnen verbieten wollten oder dass ein städtisches Labor für die Herstellung von Pulvern und Tropfen gegründet werden sollte.
Am Ende fühlte sich der Rat in seiner Meinung bestätigt, dass das Althergebrachte immer noch das Beste sei, und der schöne Reformplan des Dr. Burggrave erwies sich als Totgeburt.
Immerhin hatte er indirekt in der Hebammenfrage etwas erreicht: Bald nämlich setzte die Stadt einen studierten und männlichen Geburtshelfer ein, der den Weibern auf die Finger sehen sollte. (Dafür hatte auch der Stadtschultheiß Textor gekämpft, weil er an der schweren Geburt seines Enkels Wolfgang, bei der das Knäblein fast draufgegangen wäre, die Hebamme für schuldig hielt.) Nach all der Diskussion hatte es sich eben endlich in Frankfurt herumgesprochen, dass die Hebammen allesamt nichts taugten und die einzig wirklich kompetenten Personen in Fragen von Schwangerschaft und Geburt – die Herren Ärzte seien.
Das wusste auch die Dorette Hechtelin. Die eines Juliabends in der rappelvollen Bierstube vom Einhorn auftaucht, wo die Susann gerade sehr beschäftigt mit Servieren ist. Die Frau Bauerin aber sitzt an einem der Tische mitten im Gespräch mit dem Weinhändler Huber. Zielstrebig geht die Hechtelin genau dorthin, wünscht der Bauerin einen guten Abend und kommt gleich auf ihre Schwester zu sprechen, beziehungsweise auf deren nach wie vor anschwellenden Leib, der ihrer Ansicht nach behandelt gehöre. Während der Weinhändler auflacht, ruft die Frau Bauerin: «Susann, kommt einmal her» − was der Hechtelin gar nicht recht ist.
Während sie schnell überlegt, wie sie um Himmels willen ihr Anliegen der Susann beibringen soll, findet die sich auch schon mit zwei leeren Bierkrügen und fragendem Blick an ihrer Seite ein. Sie kenne da eine sichere Frau, erklärt die Hechtelin, halb an ihre Schwester und halb an die Bauerin gewandt (was den Weinhändler nicht hindert, zuzuhören), und diese Frau wolle der Susann morgen einen Umschlag für den Leib bereiten. Bei dem Ausdruck «sichere Frau» bekommt der Weinhändler große Augen, und die Susann zuckt zusammen. Die Hechtelin und die Bauerin sehen sich kurz an. Die Hechtelin reibt die Hände an der Schürze; jetzt kommt der Moment, wo sie fürchtet, von der Susann in ihrer List durchschaut zu werden. «Die Frau bräuchte einen Urin von dir für den Umschlag», behauptet sie, und setzt nach: «Da will sie was draus kochen.» Und dann holt
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