Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
können? Sie fühlt sich irgendwie, als sei er ihr nur knapp durch die Lappen gegangen, als könnte das auch sie sein, die da nun an seiner Seite geht und deren Hand er ganz unverhohlen ergreift, nachdem der inzwischen herbeigeeilte Diener das Pferd übernommen hat.
«Hat Augen für keine andere», spöttelt Leonore, «nur, dass er bis letzte Woche sie genauso wenig angeguckt hat wie uns, der stoffelige Tranbeutel. Und jetzt mimt er plötzlich den heißen Liebhaber.»
«Versteh ihn doch, er muss vorher schlicht blind gewesen sein, ein Augenleiden, der Ärmste», flüstert Cornelie, nur halb im Scherz. Sie ist ja tatsächlich überzeugt, dass nur einer im Wortsinne blinden Mannsperson eine Schönheit wie Lisette von Stockum gleichgültig sein kann. «Oh, keine Frage, so war’s!», fällt Leonore sofort ein. «Und anlässlich der Verlobung hat er sich von irgendeinem geschickten Chirurgus die Augen eröffnen lassen − und dann − voilà, votre fiancée, la belle Demoiselle Lisette! Welch eine Freude für den glücklichen Bräutigam! − Huch, was ist denn da vorn los, warum bleiben die schon wieder stehen? − Ach nein, seht euch das an! Die holde Miss von Stockum und ihr wohledelgeborener Verlobter geruhen, mit einer Dienstmagd zu konversieren und die ganze Gesellschaft aufzuhalten.»
Die besagte Magd, mit vollen Einkaufskörben auf ihrem Weg zurück in die Stadt, sieht allerdings nicht aus, als genieße sie die Konversation. Im Gegenteil. Sie wirkt, als sei ihr das Zusammentreffen entsetzlich unangenehm und antwortet auf alles, was sie gefragt wird, nur kurz und so leise, dass man von hinten rein gar nichts versteht. Sie sieht überall hin, nur nicht den jungen Herrschaften in die Augen, sie greift sich immer wieder fahrig ins Gesicht und schließlich schon nach ihren beiden kurz abgestellten Körben, obwohl die Verlobten und die ebenfalls beteiligte Caroline von Stockum offenbar noch lange nicht fertig mit ihr sind. Dann richtet das Mädchen sich wieder auf, jetzt eher rot im Gesicht denn wie vorhin noch blass, wuchtet die Henkel ihrer Körbe auf die Schultern und bewegt die Lippen zu einem Adieu. Und kann aber nicht weiter, da die Gruppe um die Verlobten mit vier aneinandergereihten bunten Reifröcken und einem querstehenden Pferd den Weg versperrt und keine Anstalten macht, sie durchzulassen. Sie muss sich erniedrigen und den amüsierten Röckereigen umgehen, drückt sich an der Mauer vorbei, die hier die Promenade von den Gartenhäusern trennt. Cornelie, verwundert und noch immer locker beim Runkelchen untergehakt, schiebt derweil per sachtem Armdruck ihr eigenes, hinten stehengebliebenes Trio zur Seite. Das Mädchen – etwa so alt wie sie, aber hübscher (natürlich!) – soll mit den vollen Einkaufskörben nicht gleich schon wieder einen Bogen laufen müssen.
Da erkennt Cornelie erst, dass das Mädchen ganz offenkundig schwanger ist − und zugleich hört sie, wie vorn Lisette, Caroline, Marie und Philippine zu prusten und zu kichern anfangen. Der junge Herr de Bary stimmt mit einem künstlich klingenden, gemessenen Männerlachen ein. Die Magd strebt jetzt schnell voran, rot im Gesicht und den Blick gesenkt. Genauso lang aufgeschossen wie Cornelie, krümmt sie sich geradezu, als wolle sie sich klein machen und unsichtbar werden – eine Haltung, die Cornelie übrigens von sich gut kennt. Und während neben ihr auch das Runckelchen zu kichern anfängt, kommt ihr der Gedanke: Da ist jemand noch unglücklicher als ich. Im selben Augenblick sieht die Magd auf und ihr im Vorübergehen eine Sekunde in die Augen. Cornelie fühlt, wie sie rot wird, fühlt sich auf irgendeine Weise durchschaut und zugleich auch beschmutzt von dem Blick der wahrscheinlich doch liederlichen Magd, so als sei das ein Moment geheimen gegenseitigen Erkennens zwischen ihr und der Verachteten gewesen. Sie hofft nur, dass es ihr niemand ansieht.
Schnell fasst sie sich, denn schon sind Marie und Caroline herbeigehüpft und kolportieren, wer das war: die kleine Schwester von einer langjährigen Dienstfrau der Stockums, eine gefallene Person. Bei den de Barys, bei denen sie mal Küchenmädchen war, sei sie vor Jahren schon geflogen wegen Frechheit, jetzt arbeite sie im Einhorn , dieser Judenherberge, und sei, wie jeder sehen könne, zur unendlichen Schande ihrer ehrbaren Schwester − als Jungfer schwanger! Was sie selbst natürlich strikt abstreite: Sie habe eine Blutstockung. Und angeblich nie mit einer Mannsperson zu tun
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