Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
in aller Frühe hereinkam in die Wohnung vom Tambour König auf der Alten Gass (wo die Käthe mitlogiert) und erklärte, sie wolle den Doktor Burggrave konsultieren in der Sache von der Susann. Da sie aber so schwer höre, müsse eine von den Schwestern mitkommen und den Dolmetsch spielen.
Natürlich war die ihren Gesundheitstee schlürfende Ursel gemeint. Aber die wurde gleich ganz fahrig, griff sich an den Hals und verkündete, ihr sei die ganze schändliche Sache so verhasst, dass sie augenblicklich ein Würgen und Frösteln anfalle, wenn sie nur daran denke. Sie wolle schon aus Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit gar nichts mehr damit zu tun haben, und es könne niemand von ihr erwarten, dass sie sich für die Susann vor dem Herrn Doktor Burggrave skandalisiere.
Worauf die Dorette die Käthe ansah. Und die Käthe erklärte: «Aja, ich hab bis heut Mittag frei. Heut früh könnt ich also mit dir gehen. Es ist ja auch meine Schwester.»
Und hier war sie nun.
Endlich kam auch die Dorette mit der Flasche in der Hand wieder aus dem Torbogen vom Einhorn hervor, und beide Schwestern machten sich auf den langen Weg quer durch die Stadt zum Dr. Burggrave. Der wohnte weit im Westen in der Galgengasse. Oder vielmehr, der St. Gallengasse. Denn deren Anwohner waren sich neuerdings viel zu fein dafür, um mit dem Galgen draußen auf dem Galgenfeld zwischen Galgentor und Galgenwarte irgendetwas zu tun zu haben, nicht einmal bloß namentlich, und nannten ihre Straße penetrant die Sankt Gallengasse oder Sankt Gallusgasse (obgleich man hier weder besonders schweizerisch gesonnen noch katholisch war). Bedauerlicherweise stand aber im Merianschen Stadtplan selbst in der neuesten Ausgabe doch wieder «Galgengasse». Auch der Altstadtpöbel wollte es partout nicht lernen.
Das Hausmädchen des Doktor Burggrave ist verständlicherweise empfindlich, was die Adresse betrifft. Und deshalb bekommt die Käthe gleich eins drauf, als sie, eintretend, erklärt, sie sei zum ersten Mal hier, seit der Herr Doktor in die Galgengasse umgezogen sei. «Gallegass heißt des», entrüstet sich das Hausmädchen, «wenn’s die Leut endlich einmal lernen täten! Einen Galgen gibt es hier nicht!»
«Aber Gallen gleich mehrere», brummt aus dem Wartezimmer ein nicht mehr junger livrierter Diener, Urinflasche mit dem Harn seines Herrn in der Hand. Die Käthe blitzt ihm gleich ein komplizenhaftes Lächeln zu. Sie hat die Hoffnung aufs Heiraten noch nicht ganz aufgegeben. Aber einer in Livree, sagt sie sich auf den zweiten Blick, da stehen die Chancen natürlich nicht gut, dass die Herrschaft ihn eine Frau nehmen lässt. Das hindert den Diener allerdings nicht daran, sich vom offensichtlichen Interesse einer aus seiner Sicht noch jugendlichen Vierzigjährigen angesprochen und geschmeichelt zu fühlen.
Man kam ins Gespräch (die Hechtelin stumm daneben), und kurz bevor der Doktor Burggrave den Livrierten bitten lässt, stellt sich heraus, dass den von dem Diener mitgeführten Urin niemand anderer als der diesjährige Jüngere Herr Bürgermeister Siegner persönlich abgelassen hatte. «Vor dem Nachttopf sind wir alle gleich», flachst der Livrierte noch, bevor er in des Doktors Tür verschwindet. Die Käthe Brandin war inzwischen gar nicht mehr so unzufrieden, dass sie ihren freien Vormittag geopfert hatte.
Der bürgermeisterliche Harn schien ein komplizierter nicht gewesen zu sein. Jedenfalls kam der Livrierte bald wieder heraus und verabschiedete sich sehr artig von der Käthe. Die Dorette ging derweil schon voraus in das Sprechzimmer, und als die Käthe nachgekommen ist, hat ihre Schwester schon angefangen, von dem merkwürdigen Zustand der Susann zu berichten. (Es hapert ja bei der Dorette nur mit dem Hören, nicht mit dem Sprechen.) Diesen Zustand schildert sie genauestens, bis sie zu guter Letzt bei den heute von der Susann erst gestandenen Schmerzen in den Beinen ankommt. Und sie beschließt das Ganze mit den Worten, dass der Verdacht, sie sei schwanger, bei den Leuten bislang nicht ganz habe ausgeräumt werden können. Wie es sich in Wahrheit verhalte, dies möchte der Doktor Burggrave nun bitte dem Urin entnehmen und endlich den Schwestern so oder so Gewissheit schaffen.
Der Herr Doktor Burggrave legt sein kleines, runzliges Gesicht unter der großen weißen Perücke in noch viel mehr Runzeln, schwenkt den Urin vor der Nase wie alten Wein und kostet am Ende wie eine Katze vorsichtig mit der Zungenspitze. «Hhmhm», murmelt er.
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