Gretchen
»Ihre Nägel gefallen mir«, sagte er.
In ihren Wangen bildeten sich Grübchen, und sie betrachtete ihre flatterige Hand. »Es nennt sich ›Beauty Killen«, erklärte sie. »Meine Nagelpflegerin sagt, alle Promis lassen sich das jetzt machen.«
Archie musste beinahe würgen. Eine Beauty-Killer-Maniküre? Hatten denn alle den Verstand verloren?
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte das Mädchen.
Gedämpfte Schreie drangen hinter der Tür hervor. Archie erkannte das aggressive Lärmen seines Zimmergenossen Frank.
Das Mädchen sog scharf die Luft ein.
»Er ist harmlos«, versicherte ihr Archie.
Das Mädchen klopfte mit einem Fuß und biss sich auf die Unterlippe. »Wofür brauchen sie so lange?«
»Sie sind abgelenkt«, sagte Archie. Es brauchte immer mehrere Pfleger und Schwestern, bis Franks Wutanfälle eingedämmt waren. Archie lächelte das Mädchen an und hoffte, normal zu wirken. Hinter der Tür heulte Frank etwas von Teufeln. Das Mädchen erstarrte. »Wieso geben Sie mir das Kuvert nicht einfach?«, schlug Archie vor.
Sie dachte eine halbe Sekunde darüber nach und schob ihm das Kuvert dann in die Hand.
»Okay«, sagte sie und drückte auf den Fahrstuhlknopf. Die Tür öffnete sich sofort, und sie sprang hinein. »Hübscher Engel«, sagte sie, als die Tür zuging.
Archie stellte den Engel auf den Tisch mit Al-Anon-Broschüren und untersuchte das Kuvert.
Es war keine Briefmarke darauf, was bedeutete, dass es nicht mit der Post gekommen war – jemand hatte es im Krankenhaus abgegeben. Die Absenderadresse war North Fargo 397. Kein Name. Die Leiche war in Fargo gefunden worden. Die Adresse war nicht Gretchens Handschrift, aber es wäre nicht schwer für sie gewesen, sie von jemand anderem schreiben zu lassen. Archie schob den Zeigefinger unter die Lasche, riss den Umschlag auf und zog die Karte heraus.
Es war eine altmodische Karte, das Papier war vor Alter schon weich geworden. Zwei rote Herzen, verbunden mit einer goldenen Kette. Darunter ein weißes Band und darin die Worte: EIN VALENTINSGRUSS. Archie klappte die Karte auf. Ein Gedicht war in schöner Kursivschrift auf die Innenseite gedruckt. Lass diese Kette das Schmuckband sein / Zu binden die Herzen dein und mein.
Sie konnte ihn überall kriegen. Es war nur eine Frage der Zeit.
Franks Geschrei wurde leiser, und eine Schwester kam und öffnete die Tür. Archie ging hinein.
Den Engel ließ er auf dem Tisch stehen.
_ 18 _
Susan klebte an ihrem Computer in der Redaktion des Herald. Sie hatte Abgabe um zwei. Und es war bereits Viertel vor.
Augäpfel in einem Spülkasten. Susan fragte sich, ob Gretchen sie herausgerissen hatte, während die Leute noch lebten, oder erst, nachdem sie sie ermordet hatte. So oder so taten ihr die Augen weh, wenn sie nur daran dachte.
Der Pittock-Mansion-Kopf, wie ihn bereits alle nannten, hatte es in die landesweiten Nachrichten geschafft. CNN zitierte eine Quelle im Büro des Gerichtsmediziners mit der Behauptung, dem Kopf würden die Augen fehlen. Es gab eine Internetumfrage, bei der man raten konnte, welche Farbe sie haben würden. Braun lag mit zwei zu eins vorn.
Im Herald herrschte Hochbetrieb. Auf den an die Decke geschraubten Fernsehgeräten liefen Live-Berichte von dem Haus in North Fargo, von der Schlucht und dem Pittock Mansion. Man sprach bereits von einer weiteren Sonderausgabe. Susan arbeitete an einem persönlichen Bericht vom Fund der Leiche. Derek behielt die Nachrichten im Blick, und Ian hatte zwei andere Reporter zum Pittock geschickt. Dank Henry hatte Susan die zusätzlichen Einzelheiten über den Fund auf dem Parkplatz auf der Website des Herald veröffentlichen können. Die Augäpfel. Die Herzen an der Wand. Die Milz. Sie würden am nächsten Tag groß damit herauskommen – Titelseite, über dem Falz. Henry hatte bis Redaktionsschluss eine Zeichnung des Toten im Haus versprochen; sie wollten sie veröffentlichen und sehen, ob ihn jemand kannte.
Die Polizei hatte ihre Task Force Beauty Killer, beim Herald hatten sie ihre eigene Version – Susan und Derek plus zwei weitere Reporter, zwei Redakteure, zwei Fotografen, ein Schlussredakteur und ein Praktikant. Sie hatten die Familien von Opfern porträtiert. Sie hatten Leute aufgespürt, die behaupteten, Gretchen Lowell seit ihrer Flucht gesehen zu haben. Sie hatten absolut jeden interviewt, der jemals mit ihr Kontakt gehabt hatte und noch lebte. Das Einzige, wozu sie nichts gebracht hatten, war ihr Hintergrund. Niemand wusste, woher Gretchen
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