Gretchen
Lowell kam. Es gab einen Eintrag im Strafregister von ihr, weil sie mit neunzehn in Salt Lake City einen faulen Scheck ausgestellt hatte. Das war alles. Keine Schulunterlagen. Keine Geburtsurkunde.
Nur eine Menge Leichen und die wenigen Angaben zu ihrer Biografie, die Gretchen im Gefängnis herausgerückt hatte und die wahrscheinlich größtenteils gelogen waren. Durch den Mangel an Informationen blieb der Presse nicht viel mehr übrig, als dieselben Interviews, dieselben Experten immer wieder heranzuziehen.
Der Nervenkitzel der Jagd hatte sich abgenutzt, und Galgenhumor machte sich breit. An der Wand hing ein von Dartpfeilen durchlöchertes Foto von Gretchen. Ian hatte allen in der Gruppe eine Tasse geschenkt mit Gretchen Lowells Gesicht darauf und den Worten: ICH KÖNNTE EINEN MORD BEGEHEN FÜR EINEN KAFFEE.
»Was hat Gretchen Lowell Archie Sheridan zum Valentinstag geschenkt?«, fragte der Praktikant, dessen Namen sich Susan nie merken konnte.
»Ich bin nicht in der Stimmung für so was«, sagte sie, ohne den Blick vom Monitor zu nehmen.
»Sein Herz«, sagte der Praktikant. »Ha!« Er trug ein LAUF-GRETCHEN-T-Shirt und eine Kissingerbrille, die entweder unglaublich hip oder unglaublich uncool war – Susan war noch nicht dahintergekommen, was. Sie funkelte ihn böse an, und er wandte sich wieder seinem Rechner zu.
»Ich leite es weiter«, sagte er.
»Tu das«, sagte Susan.
Sie fuhr fort damit, ihr Nahtoderlebnis in zwei Spalten zu quetschen. Werbekunden waren knapp, und es brauchte mehr als eine Leiche und eine Serienmörderin, um Platz für eine Geschichte zu rechtfertigen, die man nicht während einer Sitzung auf dem Klo lesen konnte.
Sie ging ihr Anruferverzeichnis wieder durch und suchte die Nummer des Mannes heraus, der sie wegen der Adresse kontaktiert hatte.
Parker hatte ihr erzählt, dass Reporter früher, in der guten alten Zeit der Reportage, nach Nummern geordnete Telefonbücher benutzen mussten, um Adressen herauszufinden. Das waren schwere, gebundene Bücher, die von der Telefongesellschaft zur Verfügung gestellt und in einem Schrank im Konferenzraum verschlossen aufbewahrt wurden. Man musste einen Chefredakteur dazu bringen, dass er einem den Schrank aufsperrte, und dann musste man an Ort und Stelle nachschlagen, was man suchte, weil man die Bücher nicht mit an seinen Schreibtisch nehmen durfte. Die Telefongesellschaft schickte nur einmal im Jahr ein neues Verzeichnis, es gab also nicht einmal eine Garantie, dass die Information noch aktuell war. Aber es war trotzdem ein cooler Trick, etwas, mit dem man angeben konnte. Sag mir deine Telefonnummer, und ich sage dir, wo du wohnst. Vor Google war das wie Zauberei.
Jetzt konnte jeder eine Telefonnummer in eine kostenlose Internet-Suchmaschine eingeben und hatte die entsprechende Adresse im nächsten Moment auf dem Schirm. Gab man die Adresse in Google Earth ein, bekam man eine Rundum-Ansicht des Hauses auf Straßenniveau.
Irgendwie war der Spaß damit futsch.
Susans Suche nach der Telefonnummer in ihrem Handy hatte kein Haus zutage gefördert. Sondern einen Münzfernsprecher in North Portland.
1998 hatte es in den USA zwei Millionen Münztelefone gegeben. Inzwischen waren es weniger als achthundertvierzigtausend – wahrscheinlich noch weniger, da es ein paar Monate her war, seit Susan ihren großen Münztelefonartikel geschrieben hatte. Aber Oregon hatte vorausgedacht, und als Münztelefone anfingen, das Schicksal von Schreibmaschinen und Laserdisks zu erleiden, hatte man ein Gesetz zum Erhalt von Münztelefonen im öffentlichen Interesse erlassen, in Gegenden, wo nicht alle Leute den neuesten Blackberry besaßen. Gegenden wie North Portland.
Susan gab eine nahe gelegene Adresse in Google Earth ein und spielte herum, bis sie ein Bild mit dem Münztelefon im Hintergrund hatte. Keine Telefonzelle, nur eine dieser halben Muscheln mit einem großen schwarzen Telefonbuch, das an einer silbernen Schnur baumelte.
Dann gab sie zum Spaß die Adresse des Hauses ein: North Fargo 397. Das Ergebnis war überraschend.
Die Adresse existierte nicht.
»Wo ist mein Artikel?«, fragte Ian.
14.00 Uhr.
Susan blickte auf und sah ihren Chef Ian Harper mit seiner knochigen Hüfte an ihrem Schreibtisch lehnen. Er zog an seinem Pferdeschwanz, eine Gewohnheit, die Susan früher liebenswert gefunden hatte und die sie jetzt nur noch nervte. Es gab Chefredakteure, die einen bis zur Deadline in Ruhe ließen, und es gab welche, die drohend über einem schwebten.
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