Greystone Saga: Mit Schwert und Feder: 1 (German Edition)
seinem Zimmer. Schnell lief sie an der Küche vorbei in den Westflügel. Doch sobald sie den Gang betreten hatte, in dem die Schlafzimmer der Studenten lagen, ahnte sie, dass sie Ian dort nicht finden würde. Der Flur war voller Menschen: Diener, die die Reisekisten ihrer Herrschaft packten und aus den Zimmern trugen, Studenten, die ihren Familien ihre Räumlichkeiten zeigten und Gäste, die neugierig die Burg erkundeten. Auf eine Begegnung mit so vielen Personen hatte Ian bestimmt keine Lust verspürt. Trotzdem setzte sie ihren Weg fort und klopfte an seine Tür. Wie erwartet antwortete niemand. Sie drückte die Klinke herunter und trat ein. Schon auf den ersten Blick erkannte sie, dass Ian das Zimmer seit heute Morgen nicht mehr betreten hatte. Ratlos setzte sie sich auf sein Bett. Wo konnte er nur sein?Hoffentlich ging es ihm gut! Das Entsetzen in seinen Augen beim Eintreten seines Vaters würde Joanna nie vergessen. Trotz seiner körperlichen Stärke hatte er in diesem Moment furchtbar angreifbar und verletzlich gewirkt. Und der Baron hatte genau gewusst, welche Worte er wählen musste, um das Selbstbewusstsein seines Sohnes zu zerstören. Und Ians Reaktion war die gleiche gewesen wie vor einem halben Jahr in Darkwood: Flucht.
Nachdenklich rieb sich Joanna über das Gesicht. Ian hatte seinem Vater immer noch nichts die Stirn bieten können, da er sich standhaft geweigert hatte, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ein Versäumnis, das sich nun bitter gerächt hatte. Sie erinnerte sich, dass er ihr gestanden hatte, wie sehr er sich die Anerkennung seines Vaters wünschte. Hatte er vorhin etwa gehofft, der Baron wäre gekommen, um ihm diese schlussendlich doch zu geben? Sie betete, dass das nicht der Fall gewesen war! Langsam erhob sie sich vom Bett. Es war Zeit, zurückzugehen. Sie würde später wieder kommen. Bevor sie das Zimmer verließ, ging sie einer Eingebung folgend zum Fenster und öffnete es weit.
In der Halle brachen bereits die ersten Gäste zur Heimreise auf. Jake bemerkte Joannas Eintreten und hob fragend eine Augenbraue, und sie schüttelte verneinend den Kopf. Also machte auch er sich Sorgen um Ian! Sie verdrängte ihr ungutes Gefühl und schlüpfte wieder in die Rolle der gut gelaunten Gastgeberin und Burgherrin. Obwohl sie schon mit allen Besuchern gesprochen hatte, zogen sich die Verabschiedungen nochmals endlos hin. Oder kam es ihr nur so vor?
Es war bereits später Nachmittag, und Joanna geleitete eine Familie, die sie durch die Besuche bei ihrer Tante Sophie besser kannte, nach draußen zu deren Kutsche. Nachdem der Wagen den Vorplatz verlassen hatte, ging sie nicht in die Halle zurück, sondern lief außen an der Burg vorbei. Das Fenster zu Ians Zimmer stand immer noch offen, wie sie enttäuscht feststellen musste. Mittlerweile war es empfindlich kalt geworden, und sie zog ihr Tuch enger um sich. Familien aus dem Norden hatten berichtet, dass bei ihnen schon der erste Schnee gefallen war. Kurzentschlossen lief Joanna weiter zur Waffenhalle und ging hinein. Dort war noch nicht aufgeräumt worden und alles sah aus wie am Morgen. Nur, dass es jetzt absolut still war. Sie wartete, bis ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Dann schaute sie links und rechts auf der Tribüne nach, ob Ian irgendwo saß. Doch die Zuschauerränge waren leer. Sie spähte in die Waffenkammer und in den Umkleideraum, aber auch hier verbarg er sich nicht. Bedrückt wandte sie sich zum Ausgang. Da blitzte in den letzten Strahlen der Abendsonne in der Mitte der Halle ein Gegenstand auf. Neugierig ging sie darauf zu. Als sie erkannte, was es war, seufzte sie. Sie hob Ians Schwert auf und strich über die Klinge. Dann verließ sie mit der schweren Waffe in der Hand die Halle und trat ins Freie hinaus. Das einzelne Fenster im Westflügel war immer noch geöffnet.
Bei ihrer Rückkehr fand Joanna die große Halle leer vor. Sie atmete auf. Wo war ihr Bruder? Auf einmal hörte sie, wie ihr Name gerufen wurde. Sie drehte sich um und entdeckte Laurentin, der auf sie zukam. „Was macht Ihr noch hier?“, erkundigte sie sich verwundert.
„Wir bleiben über Nacht – wegen Ian.“ Bekümmert blickte Laurentin sie an. „Mein Vater spricht gerade mit Eurem Bruder. König Theodoric ist doch sein Cousin, vielleicht können unsere verwandtschaftlichen Beziehungen Ian irgendwie helfen.“
„Das ist sehr großzügig von Eurem Vater. Wo sind die beiden?“
„In der Bibliothek. Deshalb bin ich hier, ich
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