Greywalker
Harper Blaine. Ich bin Privatdetektivin und Ihre Mutter hat mich beauftragt, Ihren Bruder ausfindig zu machen. Er ist seit sechs Wochen nicht mehr gesehen worden. Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht weiter helfen. Darf ich reinkommen?«
Sie machte einen Schritt zur Seite und ich trat ein. Hinter mir wurde die Tür wieder geschlossen und abgesperrt. Dann führte Sarah mich in die Küche, wo sie mir einen Stuhl anbot, der vor einem Klapptisch stand. Der blutrote Nagellack an ihren Nägeln war abgeblättert und angenagt. Ich nahm Platz und stellte mir meine Tasche auf den Schoß.
Sie sah mich einen Augenblick lang an und biss sich auf die Unterlippe. »Ich wollte gerade einen Kaffee aufsetzen.
Möchten Sie auch einen?«, fragte sie und ging zum Waschbecken, wo sie den Stöpsel herauszog, woraufhin das Wasser gurgelnd ablief. Sie warf mir über die Schulter einen fragenden Blick zu, während sie sich die Hände an einem Geschirrtuch abtrocknete.
»Das wäre nett, danke.«
Kommentarlos drückte sie einen Knopf an einer kleinen Stereoanlage und Vivaldis Gloria ertönte in voller Lautstärke. Kurz darauf stellte sie ein kleines Blechtablett vor mir ab, auf dem sich Kaffeebecher, Milch und Zucker befanden. Dann setzte sie sich mir gegenüber, vermied es aber, mich anzusehen. Stattdessen nahm sie ein Buch, das vor ihr lag, und legte es auf den Boden. Dann schob sie mir einen Becher Kaffee zu und baute einen kleinen Wall aus Milch und Zucker zwischen uns auf. Sie nahm ihren Kaffee und rührte gedankenverloren und mit gesenktem Kopf darin herum.
Ich nahm weder Milch noch Zucker. Der Kaffee schmeckte wie abgestandenes Wasser, das durch Sägemehl gelaufen war.
Sarah rührte energisch in ihrer Tasse. »Also, Sie wollten mit mir sprechen …?«
»Ihre Mutter hat mich beauftragt, Cameron zu finden. Ich verfolge ein paar Spuren, die mich vielleicht zu ihm führen. Aber ich möchte wissen, warum er weg ist. Und ich habe gehofft, dass Sie mir da weiterhelfen können.«
Sie schaute hoch und starrte mich zornig an. »Aha. ›Mummy‹ meint also, wenn etwas Schlimmes passiert ist, muss es Sarahs Schuld sein.«
Ich erwiderte schweigend ihren Blick, bis sie rot wurde und die Augen senkte. »Nein, so ist es nicht. Camerons Mitbewohner meinte, dass Sie ein paar Mal angerufen hätten und dass Sie beide eine gute Beziehung zu haben schienen.«
Sie spielte mit ihrem Becher.
»Wann haben Sie denn das letzte Mal mit Ihrem Bruder gesprochen?«
Sie zuckte abweisend mit den knochigen Schultern. »Keine Ahnung. Irgendwann im März oder so. Seitdem habe ich ihn weder gesprochen noch zu Gesicht bekommen. Ich habe also keinen blassen Schimmer, wo er sein könnte.«
»Haben Sie ihn im März tatsächlich gesehen oder nur mit ihm telefoniert?«
»Nein, wir haben uns gesehen.«
»Wo?«
»In einer Bar.«
»Wo?«
»Pioneer.«
»Am Pioneer Square?«
»Ja.«
»In welcher Bar?«
»Keine Ahnung mehr.«
Ich seufzte und lehnte mich zurück, nahm einen Schluck des schlechten Kaffees und stellte den Becher wieder auf den Tisch. »Es wäre wesentlich einfacher, wenn ich Ihnen nicht alles aus der Nase ziehen müsste.«
Wieder dieses mürrische Starren.
Meine Handtasche begann sich zu bewegen und Chaos* Kopf tauchte auf. Er kratzte wie wild und versuchte verzweifelt, auf den Tisch zu gelangen. Sarah erschrak zuerst und sah sich dann die pelzige Erscheinung ihr gegenüber genauer an.
Erfolgreich auf dem Tisch angelangt, schnupperte Chaos an meinem Kaffee, ehe ich ihn auf den Arm nahm. »Chaos! Hör sofort auf!«
Das Frettchen nieste und schüttelte verärgert den Kopf, als sich Sarahs Gesicht auf einmal erhellte und sie ihre Hände nach Chaos ausstreckte.
»Ist das aber süß!«, rief sie begeistert. Sie hielt Chaos einen Finger hin, damit er daran schnuppern konnte. Nach einer vorsichtigen Annäherung leckte er sogar daran. »Beißt es?«
»Nein.«
Sarah streichelte den Kopf des Tiers, und ich setzte es wieder auf dem Tisch ab. Er begann sofort Sarahs Kaffeetasse zu erkunden.
»Lassen Sie ihn auf keinen Fall an den Zucker«, warnte ich.
»Darf er ein bisschen Milch haben?«
»Ja, gut, aber nur ein bisschen.«
Sarah tauchte ihren Finger in das Milchkännchen und hielt ihn dann Chaos hin, der ihn gierig ableckte.
Das Mädchen strahlte mich glücklich an. »Darf ich ihn hochheben?«
»Äh … ja, klar.«
Vorsichtig setzte Sarah das Frettchen auf ihren Arm und drückte es zärtlich gegen ihren Hals. »Du bist aber süß!« Chaos
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