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Grieche sucht Griechin - Grotesken

Grieche sucht Griechin - Grotesken

Titel: Grieche sucht Griechin - Grotesken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Gassen, geriet unter den Brücken in Horden von krächzenden Bettlern, die in Zeitungspapier gewickelt dalagen, ein Hund schnappte nach ihm, schattenhaft im Dunkel, Ratten huschten pfeifend vorbei, und gurgelndes Wasser netzte seine Füße. Irgendwo heulte ein Schiff.
    »Schon der dritte diese Woche«, krächzte die Stimme eines Bettlers. »Los, spring rein!«
    »Unsinn«, keuchte ein anderer. »Ist viel zu kalt.«
    Gelächter.
    »Häng dich, häng dich«, bellten die Bettler im Takt: »Das ist am angenehmsten, das ist am angenehmsten.«

    Er entfernte sich vom Strom, irrte durch die Altstadt, planlos.
    Irgendwo klimperte die Heilsarmee, er geriet in die Rue Fu-nèbre, wo Passap wohnte, begann zu rennen, irrte stundenlang durch Quartiere, die er noch nie betreten hatte, durch Villen-viertel, durch Arbeitersiedlungen, erfüllt von Radiolärm, an üblen Kneipen vorbei, aus denen die Spottlieder der Fahrcks-Anhänger dröhnten, durch Fabrikbezirke mit gespenstischen Hochöfen, und erreichte gegen Mitternacht seine alte Mansarde. Er machte nicht Licht, er stand gegen die Tür gelehnt, die er hinter sich geschlossen hatte, zitternd, verschmutzt, der Frack von O’Neill-Papperer zerrissen, den Zylinder von Goschenbauer hatte er längst verloren. Die Wasserspülungen rauschten immer noch, und vom Schein der kleinen Fenster an der gegenüberliegenden Fassade, der durch die verstaubten Scheiben fiel, wurden bald der Vorhang (mit dem alten Sonn-tagsanzug dahinter), bald das Eisenbett, bald der Stuhl und der wacklige Tisch mit der Bibel, bald die Bilder seiner einstigen Weltordnung an der unbestimmten Tapete erhellt. Er öffnete 102

    das Fenster, Gestank schlug ihm entgegen und ein verstärktes Brausen. Er riß ein Bild nach dem andern von der Wand, schmetterte den Präsidenten, den Bischof, den amerikanischen Botschafter, sogar die Bibel in die dunkle Tiefe des schacht-
    ähnlichen Hofes. Nur Bruder Bibi mit seinen Kinderchen ließ er hängen. Dann schlich er sich in den Estrich, wo undeutlich in langen Reihen Wäsche hing, knüpfte ein Seil los, ließ die Leintücher irgendeiner Familie achtlos liegen und tappte sich in die Mansarde zurück. Er stellte den Tisch unter die Lampe, kletterte auf ihn, befestigte das Seil am Haken, an dem die Lampe hing. Es hielt. Dann knüpfte er die Schlinge. Das Fenster klappte auf und zu, ein eisiger Luftzug strich über seine Stirne. Schon stand er da, den Kopf in der Schlinge, und schon wollte er sich vom Tische werfen, als sich die Mansardentüre öffnete und Licht gemacht wurde.
    Es war Fahrcks, noch im Frack wie bei der Hochzeit, einen pelzgefütterten Mantel übergeworfen, das massige Gesicht unbeweglich, riesenhaft über dem Kreml-Orden, das struppige Haar eine böse Flamme. Zwei Männer begleiteten ihn. Der eine war Petit-Paysans Sekretär, der nun die Türe verriegelte, während der andere, ein hünenhafter Kerl in der Kleidung eines Taxichauffeurs, das Fenster schloß, Kaugummi kauend, und den Stuhl vor die Türe stellte. Archilochos stand auf dem schwankenden Tisch, den Kopf in der Schlinge und von der Lampe gespenstisch beleuchtet. Fahrcks nahm auf dem Stuhl Platz, verschränkte die Arme. Der Sekretär setzte sich auf das Bett. Die drei schwiegen, das Brausen der Wasserspülungen war nun gedämpfter vernehmbar, und der Anarchist betrachtete den Griechen aufmerksam.
    »Nun, Herr Archilochos«, begann er endlich, »meinen Besuch sollten Sie eigentlich erwartet haben.«
    »Auch Sie haben mit Chloé geschlafen«, zischte Archilochos vom Tisch herunter.
    »Natürlich«, antwortete Fahrcks, »das ist schließlich der 103

    Beruf der schönen Dame.«
    »Gehen Sie!«
    Der Revolutionär regte sich nicht. »Von jedem ihrer Liebhaber haben Sie ein Hochzeitspräsent bekommen«, sagte er.
    »Nun ist es an mir: Luginbühl, übergib ihm mein Geschenk.«
    Der Riese in der Chauffeuruniform trat kauend an den Tisch und legte einen runden, eiähnlichen eisernen Gegenstand zwischen Arnolphs Füße.
    »Was ist das für ein Ding?«
    »Die Gerechtigkeit.«
    »Eine Handgranate?«
    Fahrcks lachte: »Eben.«
    Archilochos nahm den Kopf aus der Schlinge, kletterte vorsichtig vom wackligen Tisch herunter und nahm die Bombe zögernd in die Hände. Sie war kalt und schimmerte im Licht.
    »Was soll ich damit?«
    Der Alte antwortete nicht sofort. Unbeweglich, lauernd saß er auf dem Stuhl, die mächtigen Hände über die Knie gespreizt.
    »Sie wollten sich das Leben nehmen«, sagte er. »Wieso?«
    Archilochos

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