Grim - Das Erbe des Lichts
ihnen zog Asmael seine Kreise und stieß ab und zu einen heiseren Schrei aus. Der Ruf des Hippogryphen verwandelte die ohnehin schon bedauernswerte Stimmung in eine Szene totaler Melancholie.
Mürrisch warf Grim Hortensius einen Blick zu. Der Alte hatte sich standhaft geweigert, ihnen zu verraten, aus welchem Grund sie um weit nach Mitternacht hier herumhocken mussten, und er hatte offenbar nicht vor, sein Schweigen so bald zu brechen.
Kein helles Feuer, das lockt die Menschen aus dem Dorf an, gerade jetzt, da die Feenmagie alles verwandelt —
das war alles gewesen, was er gesagt hatte, und nach einem Blick auf Grims Nase hatte er hinzugefügt:
Vielleicht solltest du dich in einigem Abstand zum Feuer hinsetzen, sonst bläst du es bei dem riesigen Zinken noch aus. Bei Kolossen aus Stein und Blut weiß man ja nie.
Grim hatte das alles hinuntergeschluckt, er hatte akzeptiert, dass sie die einzige Chance, mehr über den Krieger des Lichts zu erfahren, nutzen mussten, und wenn das bedeutete, eine Nacht lang nach der Pfeife eines griesgrämigen alten Zwergs zu tanzen, würde er es tun. Aber dass Hortensius darauf bestanden hatte, den Jungen mitzunehmen, setzte dem Ganzen eine Krone auf, die Grim nur schwer hinnehmen konnte. Gerade waren sie diesen verfluchten Alben entkommen — mit Glück, wie jedes Mal bisher —, und der wandelnde Meterdreißig hatte nichts Besseres zu tun, als ein Kind in dieses Abenteuer zu verwickeln. Ein Kind, das außer mickrigen Albenkräften nichts gegen ihre Verfolger ausrichten konnte und vor allem eines hatte: Angst. Grim konnte seine Furcht riechen, sie legte sich auf seine Schultern wie ein lähmender Schleier. Der Junge war bei dieser Mission eine Belastung für sie alle, so viel stand fest, und als wenn das nicht schon schlimm genug wäre, starrte er immer wieder heimlich zu Grim herüber. Vermutlich hatte er noch nicht sonderlich viele Hybriden oder Gargoyles gesehen, aber das gab ihm noch lange nicht das Recht, so zu gucken, als wäre Grim eine Gestalt aus einem Märchen.
Düster starrte Grim zurück und brachte Carven jedes Mal dazu, rot zu werden und den Blick zu senken.
Ein Wechselbalg ist er — der Bastard einer Elfe und eines Menschen, von einer unsteten Mutter in die Wiege eines Säufers gelegt. Mit acht lief er von zu Hause fort, ich fand ihn, als er am Bahnhof die Pennys aus dem Rinnstein angelte.
Hortensius mochte den Jungen, obwohl er es hinter seiner rauen Schale gut verbarg — das hatte Grim vom ersten Augenblick an geahnt, und spätestens seit dem Auftritt des Zwergs auf der Mauer seines Hauses war es ihm endgültig klar geworden. Für Hortensius war Carven wie ein Sohn, selbst wenn er ihm das niemals zeigen würde, und auch wenn das die Sache nicht besser machte, konnte Grim verstehen, warum Hortensius den Jungen nicht allein zurückgelassen hatte. Carven war schon einmal verlassen worden — vermutlich wusste der Zwerg, dass das für den Jungen schlimmer war als jede andere Gefahr.
Unauffällig betrachtete Grim den Jungen über die Flammen hinweg. Er hatte ein schmales Gesicht, und in seinen Augen lag etwas, das Grim bekannt vorkam, ohne dass er es benennen oder sich erklären konnte. Er hatte es schon einmal gesehen, damals vor etwa einem Jahr, als er auf dem Grund des Sees von Bythorsul die Hölle überwunden und jenes Menschenkind getroffen hatte, dessen Herz er in seiner steinernen Brust trug. Unwillkürlich fuhr er sich mit der Hand an die Narbe über seinem Auge, und er spürte den Riss in seinem Inneren wie eine brennende Wunde. Für einen Moment stand Grim wieder am Ufer des Höllensees und sah zu, wie das Wasser Bythorsuls um die Knöchel des Kindes strich, das ihm das Leben gerettet hatte. Wieder hob er die Klaue, und wieder sah er zu, wie das Kind Schritt für Schritt in den See hinabstieg, sich ein letztes Mal umwandte, lächelte — und dann in den Fluten versank. Ein Schmerz durchzog Grims Herz, als er es sah. Mit jedem Schritt des Kindes, so schien es ihm, flammte eine Erinnerung in ihm auf an etwas, das sich in die Finsternis seiner steinernen Brust zurückgezogen und dessen Namen er vergessen hatte. Grim sah sich an einem Abgrund stehen, das Kind des Sees auf der anderen Seite, und der Riss seines Inneren flackerte in grausamer Dunkelheit zwischen ihnen und trennte sie.
Grim räusperte sich und drängte dieses Bild zurück. Auf einmal war seine Kehle wie zugeschnürt, und er stellte fest, dass er in zwei klare, blaue Augen schaute, ohne es gemerkt
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