Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grim - Das Erbe des Lichts

Grim - Das Erbe des Lichts

Titel: Grim - Das Erbe des Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
Vom Netzwerk:
heran, die ihre Blicke über das anmutige Gesicht der Mona Lisa gleiten ließen. Noch bemerkten sie nicht die Dunkelheit, die sich hinter den gelassen wirkenden Augen der Figur zusammenzog, doch plötzlich riss die Gestalt den Kopf in den Nacken und stob eingehüllt in rauschende Schattenschleier aus dem Gemälde. Mit hohem Kreischen krachte sie gegen die Wand. Mia hörte das Scharren von Krallen über Glas und lachte über die erschrockenen Gesichter von ihrer Mutter und Josi. Einen Augenblick blieb die rätselhafte Gestalt in der Luft stehen, umtost von ihren Gewändern, das Gesicht zu einer düsteren Fratze verzogen, die nur noch entfernt menschliche Züge aufwies. Ihre Haut war durchscheinend wie gegen helles Licht gehaltenes Pergament, ihre Augen schwarz wie zwei Kohlenstücke. Vor ihnen schwebte eine Schwarze Sylphe — ein mythischer Naturgeist mit einem menschenähnlichen Körper, der entgegen den meisten gewöhnlichen Sylphen nicht allein die Luft, sondern vor allem den Sturm als sein Element begriff und sich von Wahnsinn und Gier der Menschen ernährte. Vor langer Zeit, so hatte Lyskian es Mia erzählt, hatte da Vinci die Sylphe gebändigt und für frevelhafte Taten an den Menschen an das Gemälde gebunden. Doch seit dem Tod des Malers wurde der Zauber beständig schwächer. Noch erlaubte er der Sylphe nicht, sich weiter als wenige Schritte von ihrem Gefängnis zu entfernen, doch eines Tages würde er seine Kraft vollends verlieren. Daher hatten die Alchemisten Ghrogonias den gläsernen Käfig um das Gemälde magisch gesichert, um einen Ausbruch zu verhindern.
    Für einen Moment verzog die Sylphe den Mund und ließ schwarze, klebrige Zähne sehen. Dann riss sie den Kopf in den Nacken, schrie laut wie ein Rabe und stürzte in ihr Bild zurück. Josi und Cecile atmeten wie aus einem Mund aus. Mia grinste. Eines war sicher:
    Von nun an würden zwei Menschen mehr den düsteren Schatten in den Augen der Mona Lisa erkennen können.
    »Und du hast kein Wort gesagt«, murmelte ihre Mutter vorwurfsvoll.
    Mia lachte leise. »Nicht ganz. Ich sagte: Vielleicht habe ich die Gelegenheit, mich zu revanchieren. Und ...«
    Da streifte etwas ihre Wange. Es war kaum mehr als ein Luftzug, aber er war so kalt, dass er sich anfühlte wie die Hand eines Toten. Mia hielt den Atem an und lauschte, doch sie hörte nichts als das leise Dröhnen der Heizkörper. Josi zog die Arme um den Körper.
    »Es ist auf einmal so kalt«, flüsterte sie und sah sich um. »Als hätte jemand ein Fenster geöffnet.«
    Mia hörte den angespannten Ton in der Stimme ihrer Tante, und sie wusste, dass Josi dasselbe fühlte wie sie: Jemand näherte sich ihnen, und es war kein Schattenflügler. Ein Säuseln kroch über den Boden, fast meinte Mia, feine Nebel an den Gemälden entlangstreichen zu sehen, und dann hörte sie Schritte — klare, eiskalte Schritte.
    Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich. Für einen Moment stand sie wieder in den Flimmergassen, von eisigem Wind umtost, und sah den einäugigen Fremden, der mit rätselhaftem Lächeln zu ihr herüberschaute. Dann flackerten die Notbeleuchtungen an den Wänden — und erloschen.
    Ihre Mutter stieß einen Schrei aus, erstickt und leise und doch von einer Hilflosigkeit, dass er Mia augenblicklich zu klarem Verstand brachte. Die Dunkelheit um sie herum war zäh und stickig, sie spürte, dass jeden Augenblick etwas durch die Schatten brechen und sie packen konnte. Atemlos sandte sie auf Grhonisch einen Hilferuf an die Schattenflügler im Untergeschoss und flüsterte einen Zauber. Ein blaues Licht entfachte sich auf ihrer Hand und flog wenige Schritte voraus. Schnell griff Mia ihre Mutter und Josi an den Armen und zog sie mit sich, vorbei an den Gemälden, deren Figuren plötzlich erstarrt waren, als hätte sie jemand in Schatten aus Eis verwandelt. Die Schritte hinter ihnen wurden schneller, und Mia hörte, dass der Fremde nicht allein war — sie zählte sieben weitere Verfolger. »Was ist hier los?«, flüsterte Josi neben ihr.
    Ihre Mutter atmete schnell, Mia konnte die Angst spüren, die sie empfand.
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie und war selbst erstaunt über die Ruhe, die in ihrer Stimme mitschwang. »Ich weiß nur eines: Wir werden gejagt.«
    »Mia«, begann ihre Mutter, doch da zerriss eine Stimme die Luft, eine sanfte, eiskalte Stimme, die ihren Namen wiederholte:
    »Mia Mia ...«
    Gleich darauf hallte ein Lachen von den Wänden wider, es übertönte die Schritte des Verfolgers

Weitere Kostenlose Bücher