Grim - Das Erbe des Lichts
Zauber flüsterte, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Seine Stimme strich über ihr Gesicht wie eine sanfte Berührung. Auf einmal spürte sie die Kälte nicht mehr, und ihre Lider wurden so schwer, dass sie die Augen kaum noch offen halten konnte. Doch da hörte sie den Herzschlag ihrer Mutter, fühlte Josi neben sich, die vor Kälte zitterte, und riss entschlossen die Augen auf. Verächtlich starrte sie Alvarhas in sein erstauntes Gesicht und zischte: »Du bist ein Jäger ohne Beute.«
Damit umhüllte sie ihren rechten Arm mit Eisfeuer, schlug sein Rapier zur Seite und schickte einen Sturmzauber aus ihren Fingern, der krachend gegen Alvarhas' Brust schlug und ihn rücklings durch die Luft schleuderte. Mia warf sich herum und rannte mit ihrer Mutter und Josi den Gang hinunter, während hinter ihr die Stimmen der Schattenflügler erklangen. Die Schübe mächtiger Zauber brachten den Boden zum Beben, Mia hörte Alvarhas in einer fremden Sprache brüllen. Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, begann ihre Haut zu brennen, wo seine Waffe sie berührt hatte, und eine lähmende Kälte durchzog ihre Brust. Rasch legte sie einen Schleier aus wärmenden Flammen über ihren Körper und stieß erleichtert die Luft aus, als sie
Das Floß der Medusa
erreichten, dieses düstere Gemälde von Theodore Gericault. Die Figuren rührten sich nicht, doch ihre Augen brannten in dunklem Feuer. Mia hörte einen Schattenflügler aufschreien, dicht gefolgt von splitterndem Stein. Atemlos legte sie die Hände auf das Bild und flüsterte den Zauber, der die Figuren zum Erwachen brachte. Schon streckten sie die Hände nach Josi aus, die ängstlich auf die ausgezehrten Körper schaute.
»Das ist der einzige Weg«, sagte Mia gehetzt. »Sie werden dich durch die Schattenwelt des Louvre führen — jene Welt, die hinter den Bildern liegt. So kannst du den magischen Schild umgehen, den diese ... diese Wesen geschaffen haben, um uns zu fangen. Hab keine Angst! Dieser Weg führt nach draußen!«
Josi nickte, als müsste sie sich selbst überzeugen, und kletterte, von mehreren Händen gezogen, in das Bild hinein. Ihre Konturen wurden von Ölfarben überdeckt, gleich darauf war sie eine Figur in dem Bild, und auch Mias Mutter floh in das Gemälde, um rasch von seinen Figuren aus dem sichtbaren Ausschnitt der Schattenwelt hinausgeführt zu werden. Schnell atmend fasste Mia nach der Hand eines Mannes, der sie mit festem Griff zu sich aufs Floß ziehen wollte, als etwas an ihrem Kopf vorbeiflog. Krachend schlug es gegen das Bild, Mia hörte noch das Schreien der Menschen auf dem Floß und sah, wie sie in die unsichtbaren Ebenen ihrer Welt flohen. Dann wurde sie von der Druckwelle der Magie zurückgeworfen und landete hart auf dem Rücken.
Für einen Moment bekam sie keine Luft. Dann hörte sie die Schritte. Wie aus weiter Ferne drang der Kampfeslärm zu ihr herüber. Kälte kroch über den Boden auf sie zu, Eis überzog ihre Fingerspitzen. Stockend holte sie Atem und rappelte sich auf. Die Schattenflügler kämpften erbittert gegen die Fremden, doch einer war ihnen entkommen.
Langsam und mit grausamem Lächeln trat Alvarhas auf sie zu.
Kapitel 7
rim flog so schnell, dass die Schneeflocken zu einem Tunnel aus silbrigen Lichtern wurden. Auf seiner Schulter saß Remis und wies ihm den Weg. Kronk und drei weitere Schattenflügler folgten ihnen in einigem Abstand, und Grim bemühte sich, trotz seiner Anspannung auf die Worte des Kobolds zu hören, der ihm Bericht erstattete.
»Die Spur des Gesuchten konnten wir in der kurzen Zeit nicht finden«, rief Remis gegen den Wind an. »Aber stattdessen sind wir auf etwas anderes gestoßen — etwas, das du dir ansehen solltest. Es ist gleich da vorn!«
Er deutete auf das Marais-Viertel, das nicht weit von ihnen entfernt seine Lichter in die Nacht warf. Grim stöhnte leise. Er konnte sich Angenehmeres vorstellen, als ausgerechnet in diesem Gebiet auf Verbrecherjagd zu gehen. Früher war das Marais seinem Namen entsprechend ein Sumpf gewesen, und keine der inzwischen dort ansässigen hochwohlgeborenen Herrschaften wäre zur damaligen Zeit auf den Gedanken gekommen, sich dort niederzulassen. Doch mit Henri IV. waren im siebzehnten Jahrhundert die Aristokraten gekommen, hatten ihre Herrenhäuser und Paläste, die noch immer das Viertel dominierten, um die Place des Vosges gebaut, und selbst wenn die menschliche Monarchie hier seit Jahrhunderten nicht mehr existierte, hatte die Anderwelt sich nie von ihr getrennt.
Weitere Kostenlose Bücher