Grim - Das Erbe des Lichts
außergewöhnlich hell — wie ein geborstener Kristall.
Mia zog die Schultern an und betrachtete die Spiegelfläche, in der sich graue Nebel auf und ab wälzten. Vermutlich war der Fremde nichts weiter als ein fahrender Händler, wie Hieronimus gesagt hatte, ein Anderwesen, das ihre Ausstellung wie viele andere Geschöpfe unterstützen wollte und in den Flimmergassen zum ersten Mal in seinem Leben einer Hartidin begegnet war. Mia erinnerte sich noch gut daran, wie sie selbst die Ghrogonier anfangs mit großen Augen beobachtet hatte, und sie wusste, dass sie als Hartidin eine ähnliche Faszination auf manche Anderwesen ausübte. Dennoch fragte sie sich, ob nicht doch mehr dahintersteckte. Warum hatte der Fremde ihr das Wunschglas überlassen wollen? Wie eine Antwort gingen ihr Jakobs Worte durch den Kopf
Etwas Böses sitzt in den Schatten und lauert.
Kaum hatte sie das gedacht, strich ein eiskalter Windhauch über ihre Wange.
Erschrocken wich sie zurück, schloss den Glaskasten und holte tief Atem. Sie musste sich zusammenreißen. Sie hatte zu viel zu erledigen, als dass sie sich irgendwelchen Spekulationen über geheimnisvolle Fremde oder ihre Erlebnisse während einer Illusion hingeben konnte. In einigen Tagen würden die Spürnasen Jakob gefunden haben, da war sie sich sicher — und vermutlich würden sie schon bald über ihre durchs Wunschglas personifizierten Ängste lachen.
Sie streckte sich und spürte die Erschöpfung in ihren Knochen. In zahlreichen Kisten und Truhen warteten weitere Artefakte darauf, in den Schaukästen drapiert zu werden, und nicht wenige davon waren mächtig und überaus gefährlich. Es war nicht ratsam, sich in halbwachem Zustand mit ihnen zu beschäftigen. Seufzend beschloss Mia, sich die Beine zu vertreten, und ging von dem Ausstellungsraum in die Hall Napoleon.
Sofort spürte sie die ahnungsvolle Stille, die sich stets mit dem Einbruch der Nacht über den Louvre senkte. Das Museum verwandelte sich mit dem Sonnenuntergang in einen geheimnisvollen Tempel der Märchen und Legenden, in einen Ort, an dem Vergangenheit und Zukunft sich zu einem dunklen Traum zusammenfügten. In ihren ersten Nächten war Mia ganz allein durch die Räume gestrichen, hatte die Schatten in den Ecken schrumpfen und größer werden und die Gesichter der Gemälde sich verändern sehen. Die schneeweiße Haut der Statuen des Cour Marly und des Cour Puget hatte sich im Schein der Nacht in zarte Leichentücher verwandelt, und nicht nur einmal hatte Mia geschworen, dass etwas in den dunklen Augenhöhlen der Büsten ihren Schritten gefolgt war.
Unter der gläsernen Pyramide, die nach dem Vorbild der großen Pyramide von Gizeh entworfen worden war, blieb sie stehen. Für gewöhnlich entspannte sie der Blick in den dunklen Himmel von Paris, doch in dieser Nacht war irgendetwas anders. Eine seltsame Stimmung lag in der Luft, ein Geräusch wie das zitternde Einatmen eines Riesen, und sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie jemand beobachtete — jemand anderes als die Gargoyles, die ihre Schritte bewachten. Angespannt lauschte sie in die Stille und hörte plötzlich ein Scharren — dicht gefolgt von einem lauten, scheppernden Knall. Gleich darauf zerrissen die Schwingen zweier Schattenflügler die Luft, die sich an ihr vorbei in einen dunklen Trakt des Louvre stürzten. Kaum waren sie darin verschwunden, wurde es vollkommen still. Mia hielt den Atem an und starrte wie gebannt auf den Korridor, dessen Dunkelheit sie mit grausamer Unabdingbarkeit anzog — langsam, als würde die Finsternis sich an ihrem Schrecken weiden. Die Stille umdrängte sie wie ein todbringendes, lautloses Tier. Die Dunkelheit des Tunnels baute sich in flammenden Schatten vor ihr auf, und sie wollte gerade zurückweichen, als ein Gesicht durch die Finsternis brach.
Mit einem Schrei sprang Mia zurück und stieß gleich darauf erleichtert die Luft aus. »Verdammt, was machst du denn hier?«, rief sie.
Ihre Mutter lachte, und auch ihre Tante Josi, die sich nun, gefolgt von den beiden Gargoyles, aus den Schatten des Korridors schob, grinste übers ganze Gesicht.
»Wir dachten, dass wir die Gelegenheit nutzen sollten, dich bei der Arbeit zu beobachten«, sagte Mias Mutter lächelnd. »Noch dazu, da wir bislang noch nie die Möglichkeit hatten, den Louvre ganz allein für uns zu haben.«
Josi nickte. »Die Mona Lisa ohne Touristenmassen anzusehen — das ist keine schlechte Sache, oder?«
Einer der Schattenflügler trat vor. »Es
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