Grim - Das Erbe des Lichts
gefolgt von einem leisen Klicken.
»Warte«, raunte Grim, als der Vampir die Tür aufschob. »Ich kann es mir nicht leisten, von aufgeregten Menschen gesehen zu werden. Erinnerungslöschungen kosten Zeit, und die haben wir nicht. Wir sollten ...«
Lyskian sah ihn mit einer Spur Überheblichkeit an. »Keine Sorge«, erwiderte er. »Ich habe die Bewohner schlafen gelegt.«
Grim verzog den Mund. Die Menschen in diesem Haus waren also Lyskians Diener — selbstverständlich ohne dies selbst zu wissen. Es war nicht unüblich, dass ein Vampir mit seinem Biss Menschen in Rhuvoy verwandelte — Diener nannten sie die Vampire, in Grims Welt hießen sie lebende Blutkonserven. Die betroffenen Menschen erinnerten sich nicht an den Biss des Vampirs, jedoch konnte dieser jederzeit über sie verfügen, sie zu sich rufen und ihr Blut trinken, wann immer es ihm beliebte. Darüber hinaus vermochte er es auch, seine Kräfte auf sie anzuwenden: Aus diesem Grund hatte Lyskian die Möglichkeit gehabt, die Menschen in tiefen Schlaf zu schicken. Die Sitte der Rhuvoy diente der Geheimhaltung der vampirischen Existenz und schützte so auch den Zauber des Vergessens. Dennoch wurde Grim regelmäßig unwohl in Lyskians Gegenwart, wenn er sich bewusst machte, was der Vampir tat, wenn er nicht dabei war. Doch jetzt war nicht die Zeit, um darüber nachzudenken. Er gab den Schattenflüglern ein Zeichen, ihm zu folgen, und ging hinter Lyskian durch die Tür.
Sofort nahm er den Geruch asiatischer Küche wahr, den scharfen Duft von Reinigungsmitteln und noch etwas anderes, Feineres, das durch die olfaktorisch wahrnehmbaren Schleier des Restaurants wie eine Ahnung zu Grim herüberdrang. Er sog die Luft ein, doch erst als er in Lyskians Gesicht schaute, wusste er, worum es sich handelte.
»Blut«, flüsterte der Vampir. »Viel, sehr viel Menschenblut.«
Grim sah, wie sich die Dunkelheit in den Augen seines Freundes sammelte wie Pech in einer Schale. Für einen Moment erkannte er die Abgründe, die hinter dem bleichen, schönen Gesicht lagen, und Lyskians Haltung, diese sprungbereite, angespannte Stellung seiner Füße und das tastende, suchende Umherirren seines Blicks erinnerten ihn an einen verwundeten Tiger kurz vor dem Angriff. Für einen Menschen war dieser Duft nicht wahrzunehmen, doch Grim roch das metallische Aroma und den schweren, süßen Hauch von Wehmut, den das Blut all jener Menschen stets ausströmte, die eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Er spürte Übelkeit in sich aufsteigen, als ihm bewusst wurde, dass Lyskian recht hatte. Irgendwo in diesem Haus lagen tote Menschen — und es mussten viele sein, wenn sie die Luft mit dem Geruch ihres Blutes schwängern konnten.
Lyskian zog mit zitternden Fingern ein Taschentuch aus seinem Mantel. Grim hatte den Vampir selten in einem Zustand der Schwäche erlebt, doch eines wusste er: Die Luft dieses Zimmers hätte die meisten anderen Vampire auf der Stelle in Gier und Rausch versetzt und ihnen die Fähigkeit genommen, sich gegen ihren Blutdurst zu wehren. Lyskian presste sich das Tuch vor Mund und Nase, und seine pechschwarz gewordenen Augen zeigten, dass ihn die Selbstbeherrschung enorme Kräfte kostete.
Grim ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, doch nichts deutete darauf hin, dass hier vor Kurzem ein Verbrechen verübt worden war — abgesehen von dem Geruch. Irgendwo in diesem Haus warteten die Toten darauf, gefunden zu werden. Er schickte Kronk und die anderen in den hinteren Teil des Restaurants, doch Lyskian schüttelte den Kopf.
»Nicht hier«, murmelte er hinter seinem Tuch und ging entschlossen auf die hintere Wand zu. Normalerweise achtete der Vampir darauf, seine Bewegungen seinem menschlichen Äußeren anzupassen. Doch nun riss er einen Bilderrahmen in solcher Geschwindigkeit von der Wand, dass Grim ihn nur noch als verschwommenen Umriss wahrnehmen konnte. Im nächsten Moment hörte er ein Stöhnen im Mauerwerk. Langsam öffnete sich ein Spalt in der Wand. Dahinter klaffte die Dunkelheit roter Steine, die schwach eine schmale, abwärtsführende Treppe beleuchteten.
»Ich bin seit ... langer Zeit nicht mehr an diesem Ort gewesen«, flüsterte Lyskian, der regungslos neben dem Riss stand und das rote Licht über sein Gesicht tanzen ließ.
Remis schwirrte auf Grims Schulter und starrte ehrfürchtig die Treppe hinab, von der in beinahe sichtbaren Schwaden der Blutgeruch heraufdrang. Gleichzeitig nahm die Intensität der Magie zu. Grim trat näher an den Spalt
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