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Grim - Das Erbe des Lichts

Grim - Das Erbe des Lichts

Titel: Grim - Das Erbe des Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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dahin und malten wie bei einem gewaltigen Motiv aus fallenden Dominosteinen glimmende Adern in die Dunkelheit. Atemlos sah Grim zu, wie die Funken in der Mitte des Odinwirbels wieder zusammenliefen und knisternd ineinanderschlugen. Mit einem gewaltigen Zischen verwandelte sich das schwarze Glühen in lodernde rote Flammen und erhellte das Gewölbe auf einen Schlag.
    Fassungslos starrte Grim auf das Bild, das sich ihm bot, sah die Menschenkörper, die den Raum zwischen den brennenden Augen füllten, die nackte Haut blutig und in Fetzen gerissen, die Glieder zu symmetrischen Mustern entstellt. Mit leeren Augenhöhlen starrten sie in die Dunkelheit. Grim fühlte die Blicke der Toten auf seiner Haut, er roch überdeutlich verwesendes Fleisch und Blut, das in getrockneten Rinnsalen den Boden bedeckte. Er fühlte, dass sein Hirn nicht begreifen wollte, was er sah, und starrte auf die Funken, die erneut aus dem Kreis sprangen, von ihm fortliefen und mit einem funkensprühenden Knall das Ende des Gewölbes entfachten. Zuerst glaubte er, dort einen kunstvoll gestalteten Altar zu sehen — doch dann erkannte er die Schädel. Er schwankte und fühlte Lyskians Hand auf seinem Arm, doch er konnte sich nicht abwenden. Hoch bis zur Decke bildeten halb skelettierte Menschen einen blutigen Schrein. Ihre Gliedmaßen waren mit brennenden Schnüren zusammengebunden und mit Nägeln an der Wand befestigt worden. Grim sah blutige Haut, die sich von Knochen und Fleisch löste, und übereinander getürmte Schädel.
    »Was zur Hölle ist hier passiert?«, murmelte er. Er riss seinen Blick von dem Altar los und ging zum Eingang des Gewölbes, vorbei an den Schattenflüglern und Lyskian, die ihre Blicke reglos über die Toten schweifen ließen. Wieder schaute er auf die blutigen Abdrücke menschlicher Hände und Füße, und etwas in ihm krampfte sich zusammen. Fast meinte er, die Schreie der Menschen zu hören, die Schreie in Todesfurcht, als sie versucht hatten, ihrem Mörder zu entkommen.
    »Einige Menschen wurden sofort getötet«, sagte Lyskian hinter ihm. »Manche von ihnen bereits vor Monaten. Andere wurden noch eine Weile der Dunkelheit und der Furcht überlassen, ehe ihre Qual ein Ende fand. Ich rieche beides in ihrem Blut: die Verzweiflung und das Entsetzen über den nahenden Tod. Vermutlich wurden einige von ihnen tagelang hier eingesperrt, ehe ihr Schicksal sie ereilte.« Er trat neben Grim und betrachtete die Abdrücke an den Wänden. »Sie versuchten zu fliehen. Auf allen vieren — wie die Tiere.«
    Die Stimme des Vampirs war kalt wie der Nordwind, und für einen Augenblick wollte Grim ihm seine Gleichgültigkeit mit bloßen Händen aus dem Leib pressen. Er fuhr herum und sah Lyskian in seine schwarzen Augen, die kein Gefühl erkennen ließen. Noch immer presste sich der Vampir das Tuch vor die Nase.
    »So spricht der Prinz der Vampire«, grollte Grim. »Der Prinz der Vampire — der sich ein Taschentuch vor die Nase halten muss, um nicht auf der Stelle seinen niedersten Instinkten und seinem Blutdurst zu verfallen.«
    Lyskians Augen wurden schmal, doch nur für einen Moment. Dann lächelte er hinter seinem Tuch, und etwas Eisiges trat in seinen Blick, das Grim seit langer Zeit nicht mehr an ihm bemerkt hatte. »Ich vergaß«, flüsterte der Vampir, »dass ich mit einem Menschenfreund spreche.«
    Grim erwiderte seinen Blick. Flammen entfachten sich in seinen Augen, er sah sie in Lyskians Pupillen gespiegelt. »Und ich vergaß, dass nicht jedes Anderwesen Respekt und Ehrfurcht vor dem Leben empfinden kann, wie ich es tue.«
    Lyskians Lächeln gefror auf seinem Gesicht. Für einen Augenblick glaubte Grim, der Vampir wollte ihn schlagen. Dann wandte Lyskian sich ab, es war, als hätte ein kühler Windhauch Grims Wange gestreift. »Ich liebe die großen Verachtenden«, sagte Lyskian leise, während sein Blick über die Toten schweifte wie über ein Schlachtfeld, auf dem er selbst gekämpft hatte. »Weil sie die großen Verehrenden sind und die Pfeile der Sehnsucht nach dem andern Ufer.«
    Grim kannte Lyskians Vorliebe für die menschlichen Philosophen und seine Leidenschaft für Nietzsche, doch ihm stand nicht der Sinn nach einer Erwiderung. Und offenbar erwartete der Vampir auch keine Antwort. Lautlos wandte er sich um, ließ das Taschentuch sinken und sagte tonlos und mit einem Anflug von Traurigkeit: »So sind wir beide, wie wir sind.«
    Grim zog die Brauen zusammen. »Eines steht fest: Die Leichen von Hunderten Menschen liegen in

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