Grim - Das Erbe des Lichts
ein Wort auf seiner Zunge bildete. Er kämpfte mit ihm, und dann sprach er es aus, klar und deutlich: »Liebe.«
Erstaunt sah Mia zu, wie Theryons Augen sich öffneten. Das Schwarz in ihnen wich einem dunklen Blau.
»Er schwebt zwischen unserer Welt und einer anderen«, sagte Grim leise. »Die Fee wartet auf ihn, doch sie drängt ihn zu nichts. Und auch wir warten, dass er zu uns zurückkehrt.«
Mia schaute in das Gesicht der Fee, die sie über Theryons Schulter hinweg betrachtete, und auf einmal spürte sie etwas wie Mitgefühl mit dieser Fremden. Sie fühlte, dass sie Theryon liebte, dass sie ihn immer geliebt hatte und aus irgendwelchen Gründen seit langer Zeit von ihm getrennt war. Und auf einmal kannte Mia ihren Namen: Aradis. Reglos schaute die Fee sie an, etwas glitzerte in ihren Augen, während ihr Name wie ein Flüstern durch den Raum klang. Mia sah Theryons lebloses Gesicht und seine Hände, die sich wie unter Wasser bewegten, und ihre Kehle zog sich zusammen.
»Es ist meine Schuld«, flüsterte sie und erschrak ein wenig, als sie erkannte, dass sie ihren Gedanken laut ausgesprochen hatte.
Grim sah sie an. »Was meinst du damit?«
»Er hat mir das Leben gerettet, weil ich in die Falle der Schneekönigin gelaufen bin. Ich habe Jakob gesehen. Ich wollte ihn retten, ich wollte, dass er wieder bei mir ist. Aber stattdessen habe ich den Feen ermöglicht, in dieser Welt zu bleiben. Wer weiß, was die Schneekönigin vorhat. Jakob ist immer noch in ihrer Gewalt. Ich habe diese verfluchte Scherbe in meiner Brust und ich ...«
Grim wollte sie an sich ziehen, doch sie wich vor ihm zurück. Sie wusste, dass sie ihm Unrecht tat, und doch meinte sie für einen Moment, seine Gedanken hören zu können:
Du bist nur ein Mensch. Du bist schwach.
Sie spürte, dass in diesem Augenblick etwas in ihr wuchs, das kälter war als die Scherbe aus Eis in ihrer Brust. Drei kleine Worte waren es, und doch brachten sie etwas in ihr zum Erzittern, drei Worte, die ihr den Boden unter den Füßen wegzogen und sie sich fühlen ließen wie ein hilfloses Boot im Sturm: Sie hatte versagt.
Sie spürte, dass Aradis sie ansah, regungslos und mit rätselhaftem Ausdruck auf dem Gesicht, als würde sie ihr etwas sagen wollen, das Mia noch nicht verstand. Nachdenklich ging sie zu einem der Regale und strich über einen Buchrücken. Goldener Staub blieb mit leisem Klingen an ihren Fingern haften. »Die Bücher der Feen«, murmelte sie und dachte daran, wie oft sie neben Theryon vor diesen Kunstwerken gestanden und für ihre Lektionen in ihnen gelesen hatte. Wie oft war sie an ihren Übungen verzweifelt, wie oft waren ihr Zauber misslungen.
Es gehört zum Leben eines Menschen, zu taumeln und zu fallen,
hörte sie Theryons Stimme in ihren Gedanken, und sie meinte, Aradis vor ihrem geistigen Auge lächeln zu sehen. Für einen Moment war sie versucht, sich zu dem Wirbel aus Licht umzudrehen, um zu prüfen, ob Theryon womöglich wirklich mit ihr sprach, ob Aradis tatsächlich lächelte. Doch sie vermutete, dass es nichts als Erinnerungen und Illusionen waren, die da durch ihren Kopf huschten. Erinnerungen an Theryon, ihren Mentor, und an all das, was er sie gelehrt hatte.
Doch es gehört zum Leben eines Helden, sich wieder aufzurappeln.
Entschlossen griff sie nach einem Buch mit silbernen Beschlägen und wandte sich zu den anderen um. »Die Schneekönigin hat versucht, Theryon zu töten«, sagte sie mit fester Stimme. »Nun braucht er Zeit, um sich zu heilen, aber ich werde in der Zwischenzeit nicht untätig herumsitzen. Die Königin hat nicht nur Jakob in ihrer Gewalt, sie hat auch die Alben über die Menschen gebracht und mich selbst mit ihrer verfluchten Scherbe verwundet. Aber vor allem hat sie Theryon verletzt. Er ist mein Lehrer und mein Freund. Ich werde herausfinden, warum sie ihm nach dem Leben trachtet und was sie in dieser Welt vorhat.«
Eilig flog Remis zu einem der Regale. Der grüne Schein seines Körpers fiel auf die goldenen Rücken der Bücher. »Hier liegt das Wissen des Guten Volkes«, flüsterte er ehrfurchtsvoll. »Das Wissen der Feen. Wenn wir etwas über ihre Königin herausfinden wollen — dann müssen wir es hier suchen.«
Grim öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch im selben Moment gaben Mias Beine unter ihr nach. Erschrocken griff sie nach dem Regal, das Buch rutschte ihr aus der Hand, doch ehe es auf dem Boden aufkam, war Grim bei ihr, fing es auf und stützte sie. Schwarze Schatten zogen an ihren Augen
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